Ein sehr hilfreicher Aufsatz in einer unsrer Zeitschriften brachte eine Gefühlssaite bei mir zum Schwingen und ließ mich die süße Erfahrung wiedererleben (das Wort süß bedeutet unter anderm melodisch), die ich durchmachte, als unsre Führerin die allwöchentlichen Zeugnisversammlungen für uns einrichtete. Soweit ich zurückdenken kann, litt ich unter einem Gefühl äußerster Befangenheit und empfand eine peinliche Abneigung dagegen, vorwärtszugehen, wenn nicht ein andrer die Initiative ergriff. Ich war in einer Glaubensanschauung auferzogen worden, die ihre gemeinsamen Gebete, Riten und Zeremonien mit Ehrfurcht beobtete und ein Abweichen von denselben für unmöglich hielt; aber ich vermochte immer weniger mit jener Ungezwungenheit zu handeln, die ich bei andern so bewunderte.
In den Jahren treuer Anhängerschaft an dieser kalten Lehre war ich stets krank, ohne Hoffnung auf Befreiung von Furcht und Leiden, bis die Christliche Wissenschaft auf mein müdes Selbst schien und die Schatten vertrieb. Daß ich von einem beständigen Angstgefühl befreit wurde und Zuversicht, Mut und Kraft erlangte, war eine unausbleibliche Folge der Änderung meines Gottesbegriffs. Er führte mich auf ganz natürliche Weise aus der alten Kirche heraus, ohne daß ich dabei ein andres Gefühl als das des Friedens und der Freude gehabt hätte — der Freude darüber, endlich einen Gott zu haben, der alle schwierigen Fragen beantworten würde, die meine „geistlichen Ratgeber,“ so gewissenhaft und aufrichtig sie auch waren, stets mit den Worten abtaten: „Das ist ein Geheimnis, in das du jetzt nicht eindringen kannst.“
Während der erwähnten Zeit meiner Kränklichkeit empfand ich eine unnatürliche Angst vor Menschen, und ich brauche daher kaum zu erwähnen, daß es mir nicht möglich gewesen wäre, vor einer Anzahl Menschen zu sprechen, noch viel weniger hätte ich Erfahrungen berichten können, wie man sie in unsern Mittwochabend-Versammlungen zu hören bekommt. Übrigens war nach meiner ritualistischen Erziehung eine derartige „Regelwidrigkeit“ unerlaubt. Die vielen Segnungen, die mir der heilende Christus täglich brachte, ließen in meinem Gemüt Danklieder erklingen und erfüllten mich mit dem Verlangen, den von unsrer Führerin gewiesenen Weg gehorsam zu gehen. Eine meiner ersten Gelegenheiten, meine Aufrichtigkeit zu beweisen, kam, als unsre Führerin auf dem Arbeitsfelde die Zeugnisversammlungen anordnete, und zwar mit folgenden inspirierten und inspirierenden Worten: „Erweitert eure Grenzen, damit ihr die Menschen segnen könnt. ... Lernt vergessen, was ihr nicht im Gedächtnis behalten sollt, nämlich das eigne Ich, und lebet für das Gute, das ihr tut. Seid demütig; euer Motto für diese Versammlungen sei: Wer wird der Geringste, wer wird Diener sein; und ‚Kindlein, liebet einander‘ “ (Journal, Jahrgang XIII, S. 41).
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