Um die Christliche Wissenschaft ausüben zu können, ja um sie auch nur verständnisvoll zu studieren, muß der Schüler den Unterschied im Auge behalten, den sie zwischen Wirklichkeit und Illusion macht, besonders in Hinsicht auf den Menschen. In dieser Anwendung bedeutet er den Abstand zwischen dem einheitlichen Menschen, dessen einziges Prinzip göttlich ist, und den menschlichen Persönlichkeiten, welche aus Eigenschaften zusammen gesetzt zu sein scheinen, die weder miteinander noch mit einer einheitlichen Ursache in Einklang stehen. Diesem Widerspruch nachgehend, findet die Christliche Wissenschaft, daß die Unterscheidungslinie zwischen Wirklichkeit und Illusion im sogenannten menschlichen Gemüt gezogen werden muß, und die Trennung, die sie daselbst vornimmt, erweist sich als höchst wichtig für die Menschheit. Auf diese Weise stellt die Christliche Wissenschaft die Religion Christi wieder her und führt ihre Erfüllung herbei.
Die Darlegungen Mrs. Eddys lassen uns deutlich erkennen, daß sich das Christentum ursprünglich auf die Wahrheit oder Wirklichkeit des Seins gründete. Seine grundlegende Forderung war Kenntnis der Wahrheit über Gott und den Menschen. Maßgebende Autoren erklären uns, daß das griechische Wort, welches im Evangelium Johannes mit „die Wahrheit“ übersetzt ist, absolute Wirklichkeit bedeutet, im Gegensatz zu dem, was nur augenscheinlich, scheinbar oder falsch ist. Man beachte Aussprüche wie die folgenden: „Ich bin dazu geboren und in die Welt kommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll.“ „Ich bin kommen, daß sie das Leben und volle Genüge haben sollen.“ „Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christ, erkennen.“ „Und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.“ Diese Aussprüche des Meisters weisen darauf hin, daß die menschliche oder sterbliche Vorstellung vom Leben und vom Menschen falsch ist, und daß das ewige Leben sowie die Freiheit des wahren Menschentums dann erlangt wird, wenn man die Wahrheit des Seins kennen lernt und sie sich vergegenwärtigt. Der Lehre Christi Jesu zufolge sind alle Möglichkeiten des Seins für uns vorhanden, und zwar jetzt schon.
Unser gegenwärtiger Stand wurde von Johannes mit folgenden Worten dargelegt: „Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder; und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.“ Er meinte nicht, daß wir je anders sein würden, als wir tatsächlich sind, sondern daß wir jetzt Gottes Kinder sind, wenn wir auch die Wirklichkeit des Seins noch nicht gewahr werden. Er sah keinen Verlust der Identität voraus, sondern das Kommen der Erkenntnis der wahren Identität. Mrs. Eddy wendet dieselbe Erkenntnis an, wenn sie sagt: „Sünde, Krankheit und Tod müssen verschwinden, um den Tatsachen Raum zu geben, die dem unsterblichen Menschen angehören“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 476).
Erlösung vom Übel hängt also in erster Linie davon ab, daß man zwischen dem wahren Sein und seinem vermeintlichen Gegenteil zu unterscheiden weiß. So ist z. B. Freisein von Krankheit eine Folge der vollen Erkenntnis der absoluten Wahrheit über das Leben und über den Menschen. Um der Krankheit Herr zu werden, müssen wir sie aus unsrer Vorstellung vom Leben und vom Menschen beseitigen und sie als bloßen Irrtum erkennen. Wenn sie als solcher behandelt wird, kommt sie unter die Herrschaft des göttlichen Gesetzes, vermöge dessen die Wahrheit den Irrtum vernichtet. Gegen jede geheime oder sichtbare Form des Irrtums kann man in dieser Weise vorgehen. Erlösung vom Irrtum hängt in zweiter Linie von der Ausübung der dem Menschen von Gott verliehenen Herrschaft ab.
Der Bibel zufolge umfaßt das Gesetz der Schöpfung des Menschen und seines Seins die Verordnung, daß der Mensch herrschen soll „über die ganze Erde.“ Dies ist eins der natürlichen Rechte des Menschen, ein Recht, welches schon jetzt in vollem Umfange als eine Idee besteht, die man verstehen und erkennen muß, mögen auch die Menschen durchschnittlich mehr den Zustand des Unterworfenseins bekunden als die Fähigkeit, zu herrschen. Dieses Ideal brachte er zum Ausdruck, den Paulus als den Menschen Christus Jesus bezeichnete. Und er war es, der da sagte: „Meinen Frieden gebe ich euch.“ Sein Friede war das Ergebnis der Herrschaft; er war das Ergebnis der Macht über alles, was auf die Harmonie des Menschen störend zu wirken suchte. Wollen wir diesen Frieden haben so müssen wir jene wahre Erkenntnis vom Sein und von Macht erlangen, die er besaß und durch die er wirkte.
Was war nun das Geheimnis von Jesu Herrschaft? Was gab ihm so unumschränkte Macht? Er tat ihre Grundlage mit den Worten kund: „Ich kann nichts von mir selber tun.“ Das heißt, er besaß Macht oder Herrschaft auf Grund der Beziehung des Menschen zu Gott, auf Grund des Einsseins des Menschen mit dem unendlichen und allmächtigen Gemüt. Dieses Einssein veranschaulichte er während seiner ganzen irdischen Laufbahn. Der allgemeine Mangel an Herrschaft ist auf den allgemeinen Irrtum zurückzuführen, daß der Mensch eine von Gott getrennte, materielle Selbstheit sei.
Die Herrschaft hat noch eine andre Seite, die der Erwägung bedarf. Sie ist nämlich nicht gleichbedeutend mit der Macht, auf die rechte und gesetzmäßige Ordnung des Weltalls störend einzuwirken, noch mit der Macht eines Menschen, seinen menschlichen Willen einem andern aufzudrängen. Vielmehr ist sie die Macht, Störungen zu beseitigen, unharmonische Zustände aufzuheben und das Gesetz Gottes aufrechtzuerhalten. Sie ist die Macht, die Wahrheit des Seins zu demonstrieren, das Böse mit Gutem zu überwinden, wodurch Gottes Wille wie im Himmel also auch auf Erden geschieht.
Wo und wie, so frägt nun jemand, soll unsre Herrschaft ausgeübt werden? Mrs. Eddy hat die Antwort auf diese Frage gegeben. Sie sagt: „Das Gute muß in den Gedanken des Heilers vorherrschen“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 446). Es ist klar, daß man sich nur mit den Irrtümern im besonderen befassen kann, die sich einem bieten. Daher muß jeder Schüler in der Praxis dem Irrtum an der Pforte seines Denkens entgegentreten. Nicht nur ist dies der Ort, wo man den Irrtum bezwingen sollte, sondern wo man ihn auch in jedem Fall bezwingen kann, mag die Lage noch so schwierig sein. So betrachtet, ist ein gegebener Fall ein Zustand, der anscheinend einen Irrtum oder eine falsche Handlung umfaßt. Natürlich muß ein jeder, der einen Irrtum gewahrt, ihn entweder annehmen oder verwerfen. Mrs. Eddy erklärt (Unity of Good, S. 50): „Wir müssen wachen und beten, daß wir nicht der Versuchung unterliegen, uns dem pantheistischen Glauben hinzugeben, daß die Materie versinnlichtes Gemüt sei. Wir sollten sie, wie es Jesus tat, durch eine beherrschende Erkenntnis vom Geist bezwingen.“
Gegen Ende seiner irdischen Laufbahn sagte Jesus zu seinen Jüngern: „Seid getrost, Ich habe die Welt überwunden.“ Wenn das, was er vollbrachte, unerklärlich oder übernatürlich war oder nur durch ihn geschehen konnte, welchen Grund hatten sie dann, wegen seines Überwindens „getrost“ zu sein? Darf man nicht annehmen, daß er also sprach, weil er ihnen wie uns den Weg gewiesen hatte? „Zeugte“ nicht sein Sieg über das Böse für die Wahrheit? Seine Machtbezeugungen standen mit einem Gesetz im Einklang — mit dem unwandelbaren Gesetz des Guten. Seine gewaltigen Werke bekundeten die Gegenwart, das Wirken und die Macht des göttlichen Prinzips. Die Zeichen, die er tat, bewiesen die wahren Eigenschaften des wirklichen Seins — deines Seins und meines Seins — und bewiesen, daß es frei vom Bösen ist. Seine Heilungswerke waren nicht übernatürlich, sondern durchaus natürlich, denn sie taten das wahre Wesen Gottes und des Menschen dar. Sie trennten das Wahre und Dauernde vom Zerstörbaren und Unwirklichen. Durch Wort und Tat lehrte und bewies er die wahre Idee von Gott und vom Menschen, und bezeugte somit ihr völliges Getrenntsein vom Bösen. Dies war seine Mission, dies war sein Verfahren, wodurch er das „Licht der Welt“ wurde und es immer noch ist.
Petrus beschrieb die Wirksamkeit Jesu mit den Worten: „Der umhergezogen ist und hat wohlgetan und gesund gemacht alle, die vom Teufel überwältiget waren, denn Gott war mit ihm.“ Seine Wirksamkeit bestand weniger in mündlicher Unterweisung als in praktischer Veranschaulichung, wodurch er des Menschen rechtmäßige und natürliche Herrschaft über das Böse klar machte. Ja seine ganze irdische Laufbahn, während welcher er die Irrtümer, die zur menschlichen oder sterblichen Vorstellung vom Leben gehören, einen nach dem andern überwand, bis er sich vollständig über diese Vorstellung erhob — diese Laufbahn lieferte den höchsten Beweis und das erhabenste Beispiel von der Herrschaft und dem Sein, das der Mensch von Gott empfängt. „Gott war mit ihm,“ und genau so ist Gott mit uns.