Das menschliche Gemüt hat sich in keiner Sache, die es je untersucht oder analysiert hat, mehr widersprochen, ist in keiner Sache mehr im Unklaren gewesen als in seinem Versuch, das Leben begrifflich zu bestimmen. Der Grund dafür ist sehr einfach und völlig klar. Ob es von einer biologischen, oder einer theologischen, oder einer philosophischen Grundlage oder von der Grundlage des sogenannten gesunden Menschenverstandes aus folgert, es gründet seine Argumente stets auf das Zeugnis der physischen Sinne, so daß der Schluß stets begrenzt war. Mit anderen Worten, der Biolog verfolgt das menschliche Dasein von seinem Keim bis zu seinem Verfall und seiner Wiederaufsaugung in die Materie. Der Theolog anerkennt die Voraussetzungen und die Schlüsse des Biologen, wenn auch mit dem Vorbehalt, daß der Ursprung des Lebensfunkens nicht in der Materie, sondern in Gott zu suchen sei. Der Philosoph, der seine Theorien von der Unzerstörbarkeit der Materie entwickelt, glaubt in allen Fällen an die Beschränkungen des physischen Weltalls. Und der Vertreter des gesunden Menschenverstandes verschanzt sich hinter der unwiderlegbaren Behauptung, daß er glaube, was er sehe.
Das Merkwürdige an der Sache ist jedoch, daß die Lösung dieser Frage mit den allereinfachsten Worten in dem zugänglichsten Buch der Welt zu finden ist. Die Bibel macht es sonnenklar, daß das Leben nichts weiter als ein Synonym für Gott ist, und daß daher der Mensch umsomehr vom Leben weiß, je mehr er mit Gott bekannt ist. Da nun die Naturwissenschaft, die Theologie, die menschliche Philosophie und der materialistische gesunde Menschenverstand selber Produkte des begrenzten Begriffs von den Dingen sind, so haben sie dem menschlichen Dasein nie das höhere Verständnis vom Leben geben können. Mit anderen Worten, ihre Vertreter haben den Spruch des Philosophen Seneca angenommen: Quid est enim novi, hominem mori, cujus tota vita nihil aliud quam ad mortem iter ist?— auf deutsch: „Was gibt es also für den Menschen Neues im Tode, da doch das ganze Leben eine Reise nach dem Grabe ist?“ Ihnen ist das Leben nichts weiter als die Form, die göttliche Energie, die Materie usw. ihrer besonderen Schule, und es ist nach den Lehren dieser Schulen abhängig oder unabhängig von dem göttlichen Antrieb.
Die Folgerung ist äußerst einfach. Sie schließt entweder Gott gänzlich aus der Schöpfung aus und setzt die Materie an Seine Stelle, oder aber macht sie die Materie zum Schöpfer des Geistes, was durchaus sinnwidrig ist. Jesus erklärte deutlich was er von solchen Lehren dachte. Zum Nikodemus sagte er: „Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was von Geist geboren wird, das ist Geist,“ während er den Juden gegenüber erklärte: „Der Geist ist's, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die Ich rede, die sind Geist und sind Leben.“ Was er auch sonst noch mit diesen Worten gemeint haben mag, eine Bedeutung ist gewiß die, daß Gott, da Er in der geistigen Schöpfung alles sah, was Er gemacht hatte und es für gut erklärte, unmöglich das Fleisch schaffen konnte, das nichts nütze ist, und daß das Leben nicht ein materieller Organismus ist, sondern eine klare Erkenntnis des Prinzips.
In den Lehren Jesu findet sich durchgängig diese Erklärung vom Leben, eine Erklärung, die so klar und einfach ist, daß man kaum verstehen kann, wie die Philosophen und Theologen sie haben mißverstehen können. „Das ist aber das ewige Leben,“ sagte er in Gegenwart seiner Jünger auf dem Weg nach Gethsemane, „daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christ, erkennen.“ Das ewige Leben ist also eine Erkenntnis der absoluten Wahrheit, und die Wahrheit oder Gott ist das Leben, und das Leben, daß sich in der geistigen Schöpfung kundtut, ist die Wiederspiegelung oder die Erkenntnis Gottes, der Wahrheit, des Lebens. Darum sagt Johannes in der Zusammenfassung seiner Epistel so kurz und bündig: „Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben.“
Folgendes liegt somit klar zutage. Wenn Gott, Geist, den Menschen zu Seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat, und wenn dieser vom Geist geborene Mensch durchaus getrennt ist von dem Fleisch, das nichts nütze ist, so muß das Leben im Fleisch ein falsches Leben oder eine Lüge über die Wirklichkeit sein. Diese Lüge, daß das Leben endlich, materiell, sterblich sei, nihil aliud quam ad mortem iter, nichts weiter als eine Wanderschaft dem Tode entgegen, wurde von Jesus bloßgestellt. Er erklärte das sündige menschliche Sein mit den Worten: „Ihr seid von dem Vater, dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollt ihr tun. Derselbige ist ein Mörder von Anfang und ist nicht bestanden in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er von seinem Eignen; denn er ist ein Lügner und ein Vater derselbigen.“ Er hätte kaum deutlicher sagen können, daß der Irrtum, der das Leben in die Materie verlegt, nichts nützt, eine Lüge ist, und daß diese mörderische Lüge mit dem Glauben an eine andere Lüge, den Tod, endet. Ja er erklärte, wie man diese Lüge widerlegen und sie bloßstellen muß, indem er sagte: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen,“ frei von nichts anderem als von der Lüge, denn diese Erkenntnis der Wahrheit ist die Erkenntnis des wahren Gottes und des ewigen Lebens.
Ist es nicht klar, warum der weise Salomo schrieb: „Der Weisheit Anfang ist, wenn man sie gerne höret und die Klugheit lieber hat denn alle Güter“? Diese Weisheit ist jedoch nicht die Weisheit des Seneca; sie ist nicht die Weisheit des Naturforschers oder des Philosophen, des Theologen oder des mit gesunden Menschenverstand Begabten. Vielmehr ist sie die Weisheit Jesu Christi, und sie kann nur dadurch erlangt werden, daß man in den Fußtapfen des Christus wandelt. Mrs. Eddy schreibt in ihrem Werk Wissenschaft und Gesundheit (S. 376): „Dem bleichen Kranken, von dem du behauptest, daß er an Blutschwindsucht dahinsiecht, sollte man sagen, daß Blut niemals Leben gegeben hat und es niemals nehmen kann — daß Leben Geist ist, und daß in einem guten Motiv und in einer guten Handlung mehr Leben und Unsterblichkeit liegt als in allem Blut, das jemals durch sterbliche Adern geflossen ist und einen körperlichen Sinn vom Leben simuliert hat.“ Diese Worte aus Wissenschaft und Gesundheit verbinden die verschiedenen oben angeführten Aussprüche Jesu, die einfach, praktisch und den Menschen jener Zeit verständlich waren.
Es nützt sehr wenig, einem Menschen zu sagen, daß das Leben Gott sei, wenn man ihm diesen Gott als ein übernatürliches Wesen darstellt, der für ihn unfaßbar ist und mit dem er nur durch Gebete in Verbindung treten kann, die nach Willkür erhört oder nicht erhört werden. Macht man es ihm aber klar, daß Gott Leben ist und daß dieses Leben Prinzip ist, das Prinzip, von dem sein wahres Sein herstammt, so macht man ihm den ganzen wissenschaftlichen Erlösungsplan verständlich, der dahin lautet, daß in dem Maße, wie der Mensch aus seinem eigenen Bewußtsein alles entfernt, was Gott, dem Prinzip, ungleich ist, das göttliche Gemüt und nicht das sterbliche Gemüt in seinen Handlungen zum Ausdruck kommt; und in dem Verhältnis, in dem diese Wiederspiegelung sich erweitert und klarer wird, wird sein Leben durch seine Versöhnung oder Einswerdung mit dem Prinzip harmonisch. Auf diese Weise zieht er den alten Menschen mit seinen Werken, das sterbliche oder menschliche Gemüt mit all seinen materiellen und sinnlichen Regungen und Neigungen aus und zieht den neuen Menschen an, welcher der Christus ist. Daher stellt Mrs. Eddy in ihrem Werk „Miscellaneous Writings“ (S. 96) folgende Frage und läßt ihr die Antwort folgen:
„Ob ich an die Versöhnung durch Christus glaube?
„Gewiß; und diese Versöhnung gewinnt für mich dadurch eine höhere Bedeutung, daß sie die Erlösung von Krankheit sowohl wie von Sünde in sich schließt. Ich verehre und liebe den Christus wie nie zuvor.
„Diese Versöhnung bringt mir und allen, die die Wissenschaft von Gott verstehen, eine volle Erlösung.“