All die Jahrhunderte hindurch ist das menschliche Herz die Herberge zahlloser Ideale und Bestrebungen gewesen. Im innersten Bewußtsein des Menschen herrschte noch immer das unaufhörliche Verlangen nach dem, was stets unerreichbar erscheint, das Sehnen nach Dingen, die sich gleich einer Luftspiegelung immer wieder als ungreifbar erweisen. Nicht nur haben die Denker und Philosophen aller Zeiten den traurigen Zustand gesehen, in welchem sich der sterbliche Mensch befindet, den Zustand, den man als ein beständiges Trachten nach Glück bezeichnen kann, sondern viele von ihnen haben sich auch ernstlich bemüht, die Wege zu finden, auf denen dieses ersehnte Ziel zu erreichen ist. Daß das Bestreben dieser aufrichtigen Menschen erfolglos blieb, außer in einigen wenigen Fällen geistiger Erleuchtung, tut ihrer ehrlichen Absicht keinen Abbruch, sondern läßt nur erkennen, daß ihre Folgerungen falsch waren und der sicheren Grundlage entbehrten.
Es gibt bloß einen wahren Zustand des Glücks und kann nur einen geben, nämlich den, der „aus Wahrheit und Liebe geboren“ ist, wie uns unsre Führerin sagt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 57). Keine Ruhe, kein Gefühl des Geborgenseins, kein Friede außer dem, der das unmittelbare Ergebnis des Gehorsams gegen das Gesetz Gottes ist, kann in die Herzen der Menschen einziehen und daselbst verbleiben. Gott allein ist der Quell des Friedens, „welcher höher ist denn alle Vernunft.“ Die Bibel lehrt, daß Gott Geist, Liebe, der Schöpfer alles dessen ist, was gemacht ist — alles Guten, aller wahren Dinge. Daraus ergibt sich notwendigerweise, daß Friede eine Wirklichkeit des Seins ist, daß er, wie Paulus so schön sagt, zu den Früchten des Geistes gehört.
Der Sterbliche, der sich in der Materie wohl fühlt, der den Oberbau des Lebens auf der falschen Grundlage des Wohlgefühls und der Behaglichkeit in der Materie errichtet, auf den vermeintlichen Freuden des Reichtums, der Macht und des Ruhmes und auf der Auffassung von sich selber als einem Baumeister — dieser Sterbliche versteht auch nicht im geringsten die erleuchteten Worte des Propheten Jesaja: „Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Gerechtigkeit Nutz wird ewige Stille und Sicherheit sein.“ Er umgibt sich mit Werkzeugen ganz andrer Art als Gerechtigkeit, nämlich mit Stolz, Willenskraft, Eigennutz, Geiz, Habsucht — alles Dinge ohne Grundlage und nicht zur wahren Natur des Menschen gehörig —, und glaubt dann, sich eine Behausung errichten zu können, die ihm Ruhe, Behaglichkeit und Glück bieten werde.
Daß dieses sein Streben ohne allen Zweifel in einem Fehlschlag enden wird, und daß seine Absichten welken und sterben müssen, will er in seinem Hasten nach diesen täuschenden Träumen nicht einsehen und nicht zugeben; und doch verfolgt ihn fortwährend die bange Sorge, daß er das Ersehnte vielleicht nicht erlangen werde. Blair sagt in seiner Definition des Wortes Friede, es sei „ein umfassender Begriff“ und bedeute „das Aufhören von Unannehmlichkeiten und das Freiwerden von allem, was stört.“ Hat die menschliche Philosophie, haben Erfindungen oder irgendwelche menschliche Künste jemals die Mittel hervorgebracht, welche dem bitteren Elend ein Ende machen? Haben die Sterblichen durch solche sogenannte Hilfe jemals ein erhebliches Maß der Freiheit von endloser Disharmonie erlangt?
Der Umstand, daß es der Zivilisation mit all ihrer Gelehrsamkeit nicht gelungen ist, das Sehnen des menschlichen Herzens zu stillen, ist ein sicherer Beweis, daß ihre grundlegenden Annahmen haltlos sind und daß der ganze soziale Bau ein Haus ist, das auf dem Sand ruht. Die goldene Regel, die es den Menschen ermöglicht, als eine allgemeine Brüderschaft beisammen zu wohnen, kann nicht richtig ausgelegt oder in Anwendung gebracht werden, solange das Böse als eine Wirklichkeit angesehen wird, als ein Bestandteil der Natur des Menschen, als etwas, was ihm notwendigerweise zur Erfahrung werden muß. Man darf nicht vergessen, daß Friede eine Wirkung ist, und daß er nur durch die Erkenntnis Gottes und durch den Gehorsam gegen Seine Gesetze erlangt werden kann.
In den Schriften des Jesaja wird die Christus-Erscheinung in lebendiger Sprache prophezeit, und besonders schön, wie auch äußerst einfach, ist die Benennung „Friedefürst,“ mit welcher der Prophet den göttlichen Sendboten beschreibt. In den Jahrhunderten, die auf diesen scharfsichtigen Propheten folgten, hatten die Israeliten zahllose Gelegenheiten, die geistige Bedeutung seiner Worte zu erfassen. Daß sie es daran fehlen ließen, beweist ihre völlige Blindheit für die verkündete Wahrheit und erklärt den Umstand, daß sie die geistige Idee nicht würdigten, deren Kommen durch eine Lobpreisung und die Zusicherung von Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen verkündet wurde. In dem Leben Christi Jesu trat dieser Friede hervor als die stete Begleiterscheinung und das herrliche Ergebnis des reichen Lebens, welches mitzuteilen er gekommen war. Er, der durch jeden Gedanken, jede Regung und jede Tat in wunderbar vollkommener Weise Kummer und Elend aufhob, tat dadurch dar, daß eines der hauptsächlichsten charakteristischen Zeichen, eines der wichtigsten Ergebnisse der messianischen Wirksamkeit darin bestand, daß sie der Menschheit Frieden brachte.
Des Meisters Fähigkeit, das tobende Meer mit derselben Unerschrockenheit und demselben Erfolg zur Ruhe zu weisen wie die von dem Sturm der Sünde beunruhigte und umhergeschleuderte Menschheit, ließ deutlich erkennen, daß der Friede das Siegel und Unterpfand des Bundes Gottes mit den Seinen ist. Er dachte und lebte nach einer vollkommenen Regel, und ebenso vollkommen waren seine Resultate. Niemals und unter keinen Umständen räumte er dem Bösen Raum oder Macht ein, sondern er war stets dessen Meister und bewies, daß dessen illusorisches Wesen im göttlichen Haushalt keinen Raum hat. Die Blindheit gegenüber dieser Tatsache ist der Hauptgrund, warum des Meisters Leben so falsch ausgelegt worden ist, und man hat sich deshalb mehr mit der Verbreitung von Sekten abgegeben als mit der Förderung des wahren Christentums.
In unsern Tagen freuen sich die Christlichen Wissenschafter in der ganzen Welt über die erwachende Erkenntnis der Wahrheit, jener Wahrheit, von der der Meister sagte, sie werde frei machen; auch sind sie sich der Bedingungen bewußt, von der die Erfüllung dieser wunderbaren Verheißung abhängt: das Verharren in dem göttlichen Wort. Ungehorsam war von jeher zum großen Teil die Folge der Unwissenheit über Gott und über des Menschen Beziehung zu Ihm. In Wissenschaft und Gesundheit (S. 186) sagt Mrs. Eddy weise und mitleidsvoll: „Wenn das sterbliche Gemüt wüßte, wie es besser sein könnte, dann würde es besser sein.“ Mit diesen Worten zeigt sie uns, daß es die Unwissenheit über das Wesen des Gehorsams war, die die Jahrhunderte in Knechtschaft gehalten hat. Ihr, der Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, entfaltete sich das göttliche Prinzip, welches zur Erlangung der Harmonie, des Himmels und des Friedens führt; und sie gab dann der Welt eine faßbare Erklärung der Bibel, so daß einem jeden der Christus-Segen zuteil werden kann: „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch,“ und er imstande ist, dessen Bedeutung zu erfassen.
Oft kommt es jedoch vor, daß man wohl eine Erhebung der Gedanken in ein höheres geistiges Bewußtsein erfährt und sich über die Entfaltung der Erkenntnis der Allmacht Gottes freut, dann aber einen Zeitpunkt erreicht, wo man sich äußerst schwierigen Problemen oder scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenübersieht. Diese Schwierigkeiten dauern zuweilen längere Zeit an, und der Studierende fragt dann wohl voller Mutlosigkeit und Selbstbedauern, warum es ihm trotz seiner aufrichtigen Anstrengung, den Irrtum zu vernichten, so schlecht gehe und warum scheinbar keine Hilfe zu erlangen sei. Gerade hier nun gibt uns die Christliche Wissenschaft eine ihrer wichtigsten Lehren. Der Christus-Ruf, der an das empfängliche Herz ergeht, unterscheidet sich sehr wenig von demjenigen, der an Petrus, Andreas und die andern treuen Nachfolger des Meisters erging; im Grunde genommen ist es derselbe Ruf, nämlich, „Menschenfischer“ zu werden. Dieser Ruf fordert zur Tätigkeit, zur hingebungsvollen Arbeit, zur selbstlosen Liebe auf. Wir können die erlangten Segnungen nur insofern behalten als wir sie andern mitteilen. Dann verlieren wir durch die Heiltätigkeit in der Christlichen Wissenschaft, durch Beweise der Liebe und gute Werke aller Art unsern falschen Ichbegriff und unsre selbstsüchtigen Ziele.
Erst wenn wir uns diese Lehre zueigen gemacht haben, erst wenn wir fest entschlossen alles verlassen und mit christusgleicher Liebe andern ihre Lasten abnehmen, machen wir die Erfahrung, daß unsre eignen Probleme, die so schwierig erscheinen, leichter werden und zuletzt zur Lösung gelangen. Die göttliche Liebe will nicht, daß wir uns Gutes aneignen und dann nur für uns selber leben sollen. „Unter dem Schirm des Höchsten“ zu sitzen bedeutet nicht, daß man im Verborgenen verharren soll, sondern im richtigen Denken und im Gutestun. In der Tätigkeit des Meisters standen Werke stets höher als Worte, und so muß es auch im Leben seiner Nachfolger sein. Da der Christliche Wissenschafter dies weiß, so geziemt es ihm, seine Tätigkeit zu erneuern, indem er den Bedürftigen die großen Wahrheiten des Seins darbietet. Wahrlich, solch ein Leben bringt nur Früchte des höchsten Glücks hervor — nur das, was wirklich und wahr ist. Man versteht dann, was Friede ist, denn man hat ihn erprobt. Es ist der Friede, den die Erkenntnis der Allmacht Gottes bewirkt, der Ermahnung des Hiob gemäß: „So vertrage dich nun mit ihm [engl. Bibel, ‚So mache dich nun mit ihm bekannt‘] und habe Frieden.“