Als Christliche Wissenschafter sollte es gewiß unser Wunsch sein, so tief wie möglich in den Charakter jenes Menschen einzudringen, der sich vor allen andern die schöne Bezeichnung verdiente: Der Jünger, „welchen Jesus liebhatte.“ Wir sollten uns fragen, wie die Denkart war, die ihm das Recht zu einem solchen Titel verlieh — welcher Art der menschliche Charakter dessen war, dem Jesus seinen teuersten irdischen Schatz, seine Mutter, anvertraute.
Verfasserin dieses hat versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Beim Durchlesen der Evangelien, besonders desjenigen des Johannes, sind ihr zwei Dinge aufgefallen: die Demut und die Einfachheit, die dieser Jünger zum Ausdruck bringt. Er nennt sich nie selber in seinem Evangelium, und beim Studium desselben sowie seiner Episteln erhalten wir ein mentales Bild von der Sanftmut, der Ruhe und der allumfassenden Liebe, wie keine andern Schriften es uns geben. Und doch finden wir in diesem Bild nicht die geringste Spur von Schwäche. Sowohl aus dem Donner der Apokalypse wie auch aus dem Drama auf Golgatha, wo Johannes der einzige männliche Jünger war, der Jesus in dieser Stunde des Verlassenseins nachfolgte, ersehen wir, daß es die Frauennatur ist — die weiblichen Eigenschaften des Gemüts —, deren Fuß auf dem Kopf der Schlange ruht.
Bemerkenswert ist ferner die Einfachheit der Ausdrucksweise des Johannes. Vom metaphysischen Standpunkt aus ist das Johannes-Evangelium den andern Evangelien weit voraus. Und doch liest es sich, wie ja auch die Briefe dieses Apostels, im Vergleich zu der glänzenden Dialektik des Paulus fast wie die Rede eines kleinen Kindes. Die einfachen, herrlichen Wahrheiten werden in einfacher, herrlicher Sprache fortwährend wiederholt. Als dieser Jünger sehr alt war, so lautet die Überlieferung, ging er nur noch selten unter die Leute, und bei den wenigen Anlässen, wo er zu ihnen sprach, soll er nur die Worte wiederholt haben: „Kindlein, liebet einander.“ Große Scharen drängten sich, um ihn zu sehen und ihn predigen zu hören. Einige seiner Zuhörer ärgerten sich über seine „Einfältigkeit in Christo.“ Das fleischliche Gemüt verlangte mehr Aufsehen; die intellektuelle Denkart forderte eine kompliziertere Darlegung der Metaphysik. Deshalb soll man ihn aufgefordert haben, mehr zu sagen; aber er antwortete: „Es ist genug. Es ist das, was der Meister lehrte: Kindlein, liebet einander.“ Gewiß konnten sie nicht umhin, den Einfluß dieses von Liebe erfüllten Bewußtseins zu verspüren, und zogen dann erwärmt, gesättigt und befriedigt von dannen.
Was waren denn die johanneischen Gedankeneigenschaften, die Jesus liebte, die Eigenschaften, die die Offenbarung möglich machten und die, der Überlieferung zufolge, den Tod überwanden? Sind es nicht die kindlichen Eigenschaften, nach denen heute die Welt hungert und dürstet und wegen deren Mangel sie zerrissen und blutend darniederliegt? Sind es nicht Liebe und Demut — die Liebe, die langmütig ist, die sich nicht beeilt, Genugtuung zu verlangen oder ihre Rechte geltend zu machen, sondern die stets bereit ist, ihre Meinungen, nie aber ihr Verständnis vom Prinzip aufzugeben?
Mrs. Eddy bringt dies sehr klar zum Ausdruck, wenn sie auf Seite 567 von Wissenschaft und Gesundheit sagt: „Für den Gabriel Seiner Gegenwart gibt es keinen Streit.“ Es gibt Michael und es gibt Gabriel, beide sind notwendig; aber nicht Michael der Streiter ist es, der zuerst siegt, sondern der „Gabriel Seiner Gegenwart,“ gegen den, wie unsre Führerin fortfährt, der Drache nicht lange kämpft, denn dieser „wird von dem göttlichen Prinzip getötet.“ Mrs. Eddy sagt ferner: „Das Tier unterwarf sich dem Lamm: es sollte gegen die Männlichkeit Gottes, die Jesus vertrat, ankämpfen, fiel jedoch vor der Weiblichkeit Gottes, die das höchste Ideal der Liebe darstellte“ (Christian Healing, S. 10). Im Lichte der Heiligen Schrift betrachtet sehen wir, daß es die von Johannes wiedergespiegelten weiblichen Eigenschaften des göttlichen Wesens waren, die Jesus zu ihm hinzogen, ebenso wie Johannes in jene enge Gemeinschaft mit Jesus gezogen wurde, in die wir beim letzten Abendmahl einen Einblick erhalten, als er, wie wir lesen, an Jesu Brust lag.
Wir genießen in diesem Zeitalter durch unsrer Führerin Entdeckung der Wahrheit des Seins in der Christlichen Wissenschaft das Vorrecht, die Mutterschaft Gottes zu erkennen und wiederzuspiegeln, und dieser Umstand ist es, der die Gefallenen und Hilfsbedürftigen, die Traurigen und Leidenden an unsre Tür führt. Durch den Einfluß der göttlichen Liebe fallen die schweren Lasten, die geheimen Furchtgedanken kommen aus ihrem Versteck hervor, und der Sünder fürchtet sich nicht, frei heraus zu reden, denn er weiß, daß seine Blöße „überkleidet“ werden wird. Möge doch ein jeder, der zu der Ausübung der Christlichen Wissenschaft berufen wird, sich befleißigen, ja sich unablässig befleißigen, dieses Geheimnis zu ergründen, damit wir in unserm Amt jene Eigenschaften wiederspiegeln mögen, die Jesus liebte.
