Die Erkenntnis, daß die Liebe das göttliche Prinzip ist, eignen wir uns nur in dem Verhältnis an, wie unser Verständnis von den Eigenschaften und dem Wesen des unendlichen Gemüts zunimmt. Kein anstrengendes Nachdenken über die Liebe ist nötig, denn das Bewußtsein der Liebe erlangt man nicht durch Vernunftschlüsse. „Die Wissenschaft,“ sagt Mrs. Eddy, „[leugnet] alle Krankheit, heilt die Kranken, stößt den falschen Augenschein um und widerlegt die materialistische Logik“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 120). Demnach hat solche Logik mit geistiger Wahrnehmung oder mit der Erkenntnis der Wahrheit keine Gemeinschaft. Die Wahrheit ist ihrem Wesen nach so einfach, daß gerade ihre Einfachheit für den sterblichen Sinn ein Hindernis auf dem Wege zur vollständigen Erkenntnis ist; und die Liebe, die Wahrheit ist, wird nur in geringem Grade verstanden.
Der geistige Sinn ist das Transparent, durch das man die Liebe sieht; die selbstlosen Herzen und reinen Naturen sind die klaren Transparente, durch welche das Licht der Liebe scheint. Der Gottesmensch spiegelt die Reinheit des vollkommenen Gemüts wieder. In dem Maße wie die Sterblichen glauben, daß die Materie Macht, Leben und Substanz habe, sind sie unrein. Andrerseits sind wir in dem Maße rein wie wir die göttliche Liebe durch Sanftmut und unparteiische Freundlichkeit bekunden, dem Sünder Mitleiden beweisen und die Wunden der Zerschlagenen mit zarter Fürsorge und wahrem Mitgefühl verbinden. Die Liebe ist es, die umwandelt und erlöst. Der Segensspruch der unendlichen Liebe, den das irrende Weib aus den Worten des Meisters herausfühlte: „So verdamme Ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!“— dieser Segensspruch war es, welcher ihr Herz vom Schmutz der Sünde und des Bösen reinigte. Nur diejenigen, die ihr Leben selbstlos Gott gewidmet haben, deren Bewußtsein von der Weisheit vollkommener Liebe erleuchtet ist, können das in der Menschheit schlummernde Gute erkennen, wie tief es auch unter der sterblichen Annahme verborgen sein mag.
Auf den geistigen Höhen der Liebe verlieren wir durch die uns zuteilwerdende Offenbarung des Prinzips die person aus den Augen, und das Verständnis ist dann durch die Weisheit der Liebe verschönert. Das Gewand der Wahrheit ist ungeteilt; sterbliche Auseinandersetzungen führen nie zu Einheit und Harmonie, denn die materialistische Logik tötet den Geist. Solche Logik dringt nicht ins Herz und kann dem Leben nie seinen wahren Wert geben, wohingegen die Liebe das Herz des Menschen erreicht und sein ganzes Wesen in Harmonie erblühen läßt. Die Weisheit Gottes öffnet die Schleusentore des Herzens, und an Stelle des Zweifels und der Verzweiflung tritt der Friede der Liebe. Bloße Logik, wie scharf sie auch sei, vermag nicht zu heilen und ist in Zeiten der Not, des Schmerzes und des Kummers nutzlos, während das von der mitleidigen Hand in die Wunde gegossene Öl der Liebe Frieden und Erlösung bringt. Nicht Logik sondern die Liebe führt den Wanderer heim. Nicht menschliche Logik, sondern die Liebe sitzt am Krankenbett und läßt das Licht der Hoffnung auf die bewegten Wasser leuchten. Die Liebe ist der Bogen der Verheißung, der die Wolken in glänzendes Gold verwandelt. Die Liebe ist der starke Arm, der den Leidenden umgibt.
Eine Bekundung der Weisheit ohne Liebe bedeutet einen Versuch, das ungenähte Gewand zu zerteilen; aber die Liebe, die Wahrheit ist, gibt allen, die sie wiederspiegeln, die höchste Weisheit. Liebe und Weisheit vereinigen sich in ewiger Harmonie; ihre Vereinigung ist unauflösbar in der Wahrheit. „Was nun Gott zusammengefüget hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“ Die Liebe ist der Lebensodem selber. Wir besitzen die Fähigkeit andre zu segnen in dem Maße, wie wir die Liebe wiederspiegeln. Ist diese Fähigkeit gering, so sollten wir ja darauf sehen, daß die Wolken des fleischlichen Sinnes —„Neid, Haß, Arglist und alle Lieblosigkeit“— diese Wiederspiegelung nicht verdunkeln. Tun sie es, so müssen wir unser Selbst von allem reinigen, was der unendlichen Liebe den Zutritt verweigert.
Das Gesetz der Liebe ist schöpferisch; es entfaltet das Wahre und Schöne und vereinigt alles, was es schafft, in ein harmonisches, erhabenes Ganze. Der Geist der Liebe, der durch Wohltätigkeit zum Ausdruck kommt, führt Hunderte der Wahrheit zu, während Einer mit Vernunftgründen in das Himmelreich hineingefolgert wird. Wenn wir in unserm Leben Liebe bekunden, so wird dies sicher, wenn vielleicht auch langsam, in andern den Wunsch nach Geistigkeit erwecken. Die Liebe verlangt keine Belohnung. Sie segnet unaufhörlich und hat kein falsches Selbstgefühl. Die Liebe ist eine beständige Offenbarung des Himmelreichs inwendig in uns — eine Entfaltung, durch die wir das eigne Ich in der Wiederspiegelung und Ausstrahlung unsres lebendigen Prinzips aus den Augen verlieren; denn nur in dem Maße, wie das Selbst auf den Alter gelegt wird, geht die menschliche Liebe in der göttlichen auf.
