Es war an einem trüben Wintertage. Eine Christliche Wissenschafterin war auf dem Heimweg von einer Person, die große Schmerzen empfand. Ihr Herz war von dem Wunsch erfüllt, die heilende Kraft des stets gegenwärtigen Christus zu verwirklichen. Sie fragte sich ernstlich: Was habe ich im Leben am meisten nötig, um Gotteserkenntnis zu erlangen und dadurch besser befähigt zu werden, der Menschheit zu dienen? In diesem Augenblick erschien es ihrem sehnenden Sinn, daß ihr so vieles fehle, was erhaben und schön ist, und sie wurde von diesem Gedanken fast überwältigt. Wie konnte dies alles erlangt werden? Von dem ernsten Verlangen erfüllt, daß ihr der Weg gezeigt werden möge, nahm sie Wissenschaft und Gesundheit zur Hand und schlug es mit suchendem Blick auf. Die ersten Worte, die sie las, stehen auf Seite 4: „Am meisten bedürfen wir des Gebetes inbrünstigen Verlangens nach Wachstum in der Gnade, das in Geduld, Sanftmut, Liebe und guten Werken zum Ausdruck kommt.“ Welch herrliche Antwort!
Der Pfad lag nun offen vor ihr. Im Grunde genommen war er ja der Christus-Weg. Als sie nach Hause kam, nahm sie eiligst die Bibel und Wissenschaft und Gesundheit zur Hand, um sich in das Wesen der Liebe zu vertiefen. Und welche Freude und Erleuchtung brachte ihr dies! Sie sah ein, daß sie nicht um das, was unerreichbar erschien, zu kämpfen brauchte, weil ja in dem Maße ihres Wachstums an Selbstlosigkeit, Erbarmen und Liebe (Eigenschaften, die den Meister kennzeichneten) höhere Begriffe sich ihr entfalten würden. Durch dieses Forschen erkannte sie wie nie zuvor, daß man das Bewußtsein der Liebe haben muß, um Gott zu erkennen. Noch nie sind wahrere Worte geredet worden als die im vierten Kapitel der ersten Epistel des Johannes: „Wer nicht liebhat, der kennet Gott nicht; denn Gott ist Liebe.“ Wer also wahrhaft liebt, der kennt Gott. Wer „den heiligen Schmuck,“ den Glanz der Wirklichkeit schauen will, muß sich der geistigen Liebe voll bewußt werden, denn nur auf dieser Höhe wird der Geist offenbar.
Jesus ermahnte die Menschen zur Liebe. Er sagte: „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebet habe, auf daß auch ihr einander liebhabet.“ Die Bedeutung dieses Gebotes sollte ein jeder von uns im Herzen wohl erwägen. Mit Entschiedenheit, wenn auch mit Milde, erklärt es uns, daß es zum Lieben nur einen Maßstab gibt: „Wie ich euch geliebet habe.“ Welch hohe Bedeutung legte doch der Meister in dieses Wörtchen „wie“! Betrachten wir einen Augenblick diesen Menschensohn, der keinen andern Wunsch hatte als sich hilfreich zu erzeigen; der diejenigen, die sich mühselig im Tale materieller Verlockungen dahinschleppten, liebevoll auf die Bergeshöhe der Reinheit führte, wo sie den Frieden, den die Gemeinschaft mit Gott verleiht, schmecken konnten. Und wenn sich dann unsre Gedanken ernstlich mit ihm beschäftigt haben, mit dem, der die Kranken durch die Berührung des Geistes heilte und dem jedes Kind Gottes wahrhaft teuer war, dann wollen wir uns ehrlich fragen, ob wir so lieben wie Jesus liebte.
Die Gründerin der Christlichen Wissenschaft, Mary Baker Eddy, lebte nach diesem Maßstab der Liebe, und durch die reine Linse der Liebe erschaute sie die göttliche Wissenschaft. Wenn wir bedenken, was durch ihre Arbeit zum Wohl der Menschheit geschehen ist, gewinnen ihre Worte auf Seite 247 von Miscellany eine wunderbare Bedeutung: „Das Wenige, was ich zustande gebracht habe, ist durch Liebe geschehen — durch selbstlosen, geduldigen, unwandelbaren Zartsinn.“ Welch schwere Lasten sind doch der Welt durch den „selbstlosen, geduldigen, unwandelbaren Zartsinn“ einer gottergebenen Frau abgenommen worden! Sie bewies, wie es ein jeder beweisen kann, daß das selbstlose Herz, welches von Liebe gegen alle Kinder Gottes überfließt, in der Hand des Vaters ein heiliges Werkzeug wird.
Wie kann ich aber alle Menschen lieben? ruft so mancher aus. Die Christliche Wissenschaft erklärt deutlich, daß wir niemand wahrhaft lieben können, während wir den Menschen vom menschlichen Standpunkt aus sehen. Paulus schreibt: „Darum von nun an kennen wir niemand nach dem Fleisch.“ Dieser wichtige Punkt in der Metaphysik wurde von einem sechsjährigen Knaben, welcher in der durch die Christliche Wissenschaft geoffenbarten Wahrheit unterwiesen worden war, sehr nett veranschaulicht. Er war mit seinen Eltern in einen Stadtteil gezogen, wo die Kinder nicht die Pflege erhielten, die ihm seine Mutter hatte zuteil werden lassen. Als er auf die Nachbarschaft zu sprechen kam, die ihm gar nicht gefallen wollte, sagte er treuherzig: „An dieser Straße gibt es viel Irrtum. Nicht ein einziges Kind hat ein reines Gesicht, aber ich denke, der Schmutz ist Irrtum, und er ist nicht inwendig in den Kindern.“ Ah, du kleiner Freund, welch herrliche Lehre hast du uns doch gegeben! Wir können den Schmutz der Selbstsucht und der Sünde, den unser Nächster bekundet, nicht lieben, können uns aber bewußt werden, daß er nicht „inwendig“ in Gottes Kind ist. Mit dem Auge des Glaubens vermögen wir durch den Nebel der Materialität hindurch den Menschen so zu sehen, wie unser Vater ihn sieht, und dieses reine Bild, das für die äußeren Sinne verborgen ist, zu hegen und zu verehren. In keiner andern Weise können wir zu jeder Zeit aufrichtig sagen: „Ich liebe einen jeden.“ Solches Sehen und solches Lieben wirkt in Gemeinschaft mit dem göttlichen Gemüt und spiegelt die Macht wieder, die da heilt.
Henry Drummond schreibt: „Die eine ewig geltende Aufgabe für uns alle ist die, mehr lieben zu lernen“; und er nannte die Liebe „das Größte in der Welt.“ Das ist sie wahrlich; denn nichts fördert in solchem Maße die Gesundheit, nichts ist so befriedigend, nichts ist so unumgänglich, nichts öffnet so rasch die Pforten des Himmels wie die geistige Auffassung von der Liebe. Man frage irgend jemand, wann er die frohesten Augenblicke erlebt habe, und er wird nach kurzer Überlegung antworten, er sei dann am glücklichsten gewesen, wenn er jemand einen Liebesdienst erwiesen hatte.
Ein jeder sollte sich fragen: Wie kann ich in meiner Erfahrung mehr von diesem erlösenden Geist der Liebe verspüren? Eine Art ist gewiß die, daß man dessen Eigenschaften genau prüft und danach trachtet, sie Stunde für Stunde im Alltagsleben kundzutun. Denken wir z. B. an die Ergebnisse der Liebe: Rücksicht gegen andre, Anerkennung ihres geringsten Strebens nach dem Guten, Mitleid mit ihren Fehlern, Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit, Frohsinn, Geduld, Demut. Es gibt keine Verhältnisse, in denen man diese Eigenschaften der Liebe nicht üben könnte. Wie vergeistigt schön wird doch derjenige, der diese Christus-Aufgabe getreulich löst! Seine Gedanken hauchen den zarten Duft des Himmels aus, der eine jede Atmosphäre mit Wohlgeruch erfüllt. Solche, die gehässig und unharmonisch sind, fühlen diese reine Atmosphäre, dieses wiedergespiegelte Licht der göttlichen Liebe, und unter der heiligen Berührung dieser Liebe entfalten sich die Knospen ihres Denkens wie die Blumen unter den warmen Strahlen der Sonne. Auf solche Weise kommt also die Liebe zum Ausdruck — nicht nur für einige wenige, sondern für alle; nicht weil eine bestimmte Person liebenswert und anziehend erscheint, sondern weil sie ein Kind Gottes ist.
Wer einen Lichtblick von der Wahrheit erlangt hat, macht es sich zur Aufgabe, zu segnen, nicht zu besitzen. Gleich der unwandelbaren Sonne ergießt er geräuschlos die wohltuenden Strahlen dieser Liebe über die ganze Menschheit. Wie leicht wird doch einem solchen seine Aufgabe, denn sein Herz pocht vor brüderlichem Mitgefühl für seine Nebenmenschen. Er verliert seinen Eifer auch dann nicht, wenn diejenigen, denen er das Beste, was er besitzt, gegeben hat, ihn verleumden. Nie werden ihm seine traurigen Erfahrungen Kummer bereiten, nie werden sie ihn mürrisch und verdrießlich machen. Sie können nur dazu dienen, ihm die dringenden Bedürfnisse der Welt klar zu machen; und allemal, wenn ihm Unrecht geschehen ist, nimmt er sich aufs neue vor, aus seinen Gedanken über den Menschen jeden Irrtum auszuscheiden und noch ernstlicher um eine höhere Erkenntnis der zärtlichen Fürsorge Gottes zu beten, damit er helfen möge, die Welt zu erwecken und sie der Erkenntnis der Liebe zuzuführen. Dies ist der erhabene Zweck des Lebens, und darauf arbeitet er hin, ohne dabei an das eigne Ich zu denken.
Wie schnell würden wir doch einem Menschen zu Hilfe kommen, den die Kälte überwältigt hat und der in Gefahr ist, im Schnee umzukommen! Wie denken wir aber über den Bruder, der im eisigen Banne des Grolls, der Eifersucht, der Rachsucht und des Zornes liegt? Wir wollen in der Stille die Wärme der göttlichen Liebe auf ihn reflektieren, bis sein eingefrorenes Herz die sanften Strahlen zu fühlen beginnt und er sich aufrafft, um die Tätigkeit der Liebe, die Gott ist, zum Ausdruck zu bringen. Eine Christliche Wissenschafterin bewies einstmals die heilende Wirksamkeit dieses Christus-Verfahrens, als sie mit einem Manne sprach, der so verkommen war, daß er sagte, es sei ihm einerlei, wie groß die körperlichen Qualen seien, die seine Frau leiden möge. Die Wissenschafterin wurde von dieser Bemerkung nahezu überwältigt, und sie sagte: „Ist denn Ihr Herz von Stein?“ Mit einer Miene so hart wie Granit erwiderte er: „Ich hoffe das. So habe ich es mir immer gewünscht.“
Ah, dachte die Wissenschafterin, ich gebe ja Eis für Eis. Sie hielt inne und betete im Stillen, daß sie diesen Mann so sehen möge, wie das göttliche Gemüt den Menschen sieht. Dann fragte sie mit einem Herzen, das von den Sonnenstrahlen der Liebe des Vaters erwärmt war: „Haben Sie je darüber nachgedacht, wie teuer Sie Gott sind? Es gibt niemand auf Erden, den Er mehr liebt als Sie.“
Und wie herrlich bewies sich die Macht der geistigen Berührung! Der Mann beugte das Haupt und schluchzte wie ein Kind. In jener Stunde der Umwandlung verlor er das Verlangen nach geistigen Getränken sowie jede Neigung zur Grausamkeit, denn er hatte seinen Erlöser gefunden, die göttliche Liebe.
Nichts trägt so sehr zu körperlichen Störungen bei wie jene mentalen Zustände, die dem Wesen der Liebe entgegengesetzt sind, wie z. B. Selbstsucht, Reizbarkeit, Eifersucht, Neid und Haß. Die Ärzte geben zu, daß solche mentalen Elemente den Körper vergiften. Ohne Liebe können wir also nicht leben; wenn wir frisch und gesund bleiben und ungezwungene Lebensfreude bekunden wollen, müssen wir erst lieben lernen. Hier macht nun jemand, der Pein leidet, den Einwurf: „Ja, wenn ich nicht solche Schmerzen hätte, könnte ich liebevoller sein.“ O schiebe doch das Forschen nach dieser lebenerhaltenden Eigenschaft nicht auf! Suche sie von ganzem Herzen, und Krankheit wird sich in Gesundheit verwandeln. Hunderte, die auf dem Schmerzenslager schmachteten, haben den Ruf der Liebe vernommen, schauen auf zur Liebe, erwarten ihr Leben von der Liebe und erheben sich zur beglückenden Freiheit.
Vielleicht flüstert der Traurige: „Ich habe mein Leben der mir teuren Person gewidmet, aber sie ist meinen Blicken entrückt. Nun habe ich niemand, den ich lieben könnte, und der Weg ist trostlos.“ Trockne deine Tränen, du lieber Leidtragender, denn die Freuden einer höheren Liebe warten deiner. Öffne dein Herz allen, die um dich her sind, denn sie sind deine Geschwister, Kinder des gleichen Vater-Mutter Gottes. Tröste sie, ermutige sie; suche sie emporzuheben. Laß die zärtliche Fürsorge, die du einer Person entgegenbrachtest, fernerhin allen deinen Nebenmenschen zuteil werden, und du wirst gar bald mit dem Psalmisten sagen können: „Vor dir ist Freude die Fülle.“
Wenn die Gedanken durch Eigennutz abgestumpft sind, so ertönt wie vor alters die Stimme des Christus, der die ernste Frage stellt: „Hast du mich lieb?“ Wir raffen uns einigermaßen aus unserm selbstsüchtigen Hinbrüten auf und antworten mit Petrus: „Ja, Herr, Du weißt, daß ich dich liebhabe.“ Dann kommt die Probe: „Weide meine Schafe.“ Ziehe mit einem von göttlichem Erbarmen erglühenden Herzen aus und speise jedes Kind Gottes mit den Brosamen des himmlischen Brotes. Nur selbstloser Dienst wird als Beweis der Liebe anerkannt. Man kann die heilige Stille der Gesundheit und des Friedens, wie das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft sie uns bietet, nicht erlangen, wenn man sie nur für sich selber sucht, denn dadurch wird man nicht befähigt, sich über den Buchstaben zu erheben. Nur in dem Grade, in dem man von dem heißen Verlangen beseelt ist, der Menschheit zu dienen, kann man die wahre Bedeutung dieses Wortes erfassen und sich in das Bewußtsein der unendlichen Liebe erheben, die dem Forschenden die Kraft des Heilens verleiht.
Das erhabenste Beispiel der Liebe gab unser Meister, als die Kriegsknechte kamen, um ihn abzuführen. Man denke nur: den Menschen nahmen sie gefangen, der es nie in seinem Leben versäumte, die höchste Auffassung von der Liebe, die die Welt je gesehen hat, zu veranschaulichen! Entrüstet zog einer von den Jüngern das Schwert und hieb dem Diener des Hohenpriesters das Ohr ab. Und wie handelte Jesus? War er nicht in Anbetracht, daß er seine Kreuzigung voraussah, für den Augenblick so sehr von Kummer überwältigt, daß er gegen das Leiden eines andern gleichgültig war? Niemals könnte dies von unserm Meister gesagt werden. Er dachte nur an das Wohl andrer und sagte daher mit unbeschreiblichem Erbarmen zu seinem Jünger: „Stecke dein Schwert an seinen Ort!“ Alsdann wandte er sich mit tiefem Mitleid zu dem Knecht des Hohenpriesters, „rührte sein Ohr an und heilte ihn.“ Selbst in einer solchen Stunde vergaß er das menschliche Ich so gänzlich, daß sich kein Gefühl des Selbstbedauerns in ihm regte und keine Gedanken der Bitterkeit und des Unwillens in ihm Raum fanden. Da er seiner heiligen Aufgabe stets treu blieb, vermochte selbst menschliche Rohheit seinen Blick nicht von der Liebe abzulenken.
Welches erkaltete Herz könnte bei der Betrachtung einer solchen Liebe unberührt bleiben? Wessen Augen füllen sich nicht mit Tränen der Reue, wenn er an die vielen Augenblicke denkt, in denen er nicht vergeben, des Vaters Liebe nicht wiedergespiegelt hat? Möchten wir doch als Christliche Wissenschafter unermüdlich weiter streben, bis wir gegen die ganze Menschheit jene unaussprechliche Liebe fühlen, die das Herz unsres Meisters erfüllte, als er in der Stunde des menschlichen Kummers mit christusgleichem Erbarmen das Ohr des Knechtes heilte. Ist es nicht dieser Gipfel der geistigen Liebe, auf den uns unsre Führerin ruft, wenn sie schreibt (The People's Idea of God, S. 14): „O Christlicher Wissenschafter, du von der Kirche der Neugeborenen: werde dir der höheren und heiligeren Liebe gegen Gott und den Menschen voll und ganz bewußt.“