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Stunden des Wartens

Aus der Mai 1918-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Auf etwas zu warten, scheint allen Menschen gemein zu sein. Wer dies bezweifelt, braucht nur in die Tiefen seines eigenen Herzens zu schauen und sich zu merken, was er da findet. Ist er so veranlagt, wie es die meisten von uns sind, so wird er erkennen, daß er schon seit langer Zeit gewartet hat, daß etwas geschehe oder aufhöre zu geschehen; daß jemand etwas tue oder nicht mehr tue; daß etwas komme oder gehe; daß etwas irgendwie oder irgendwo sich ändere, damit sich die Dinge etwas anders gestalten möchten als sie jetzt sind. Vielleicht ist es ein offenes Geheimnis, das alle mitfühlend teilen, oder aber eines, das selbst die vertrautesten Freunde nicht erraten haben, oder eines, das man sich selber nicht eingesteht; und doch liegt es im Denken — dieses verspätete, erhoffte Etwas, nach welchen man sich allein mit Gott sehnt.

Auf der Wanderschaft von der Sklaverei materieller Annahmen in das Licht und die Freiheit sind wir Reisegefährten, die sich in den verschiedensten Stadien des Fortschritts befinden. Einige gehen langsam, andere schnell, alle schreiten sie etwas voran. Für die meisten von uns gibt es jedoch früher oder später eine Zeit, wo der Pfad vor uns so dunkel und unsicher wird, daß uns nichts übrig bleibt als still zu stehen und des Vaters Hand zu fassen. Solche Augenblicke sind äußerst peinlich, denn nur wenige haben die große Wahrheit erfaßt, die in den Worten des Dichters liegt: „Auch solche dienen die nur steh'n und warten.“ Das sterbliche Gemüt wartet nicht gerne, ja es erhebt entschieden Einwand gegen das Warten. Es hält zäh an seinen Lieblingsplänen fest, vergilt Zurechtweisung mit Undank, grollt über Verzögerung, will das Gewünschte sofort haben und wird ungeduldig, mürrisch und widerspenstig, wenn man ihm in diesem Punkte nicht willfahrt. Und doch ist das Warten eine wunderbare Erfahrung für den, der sich so weit über den Nebel des Selbstbedauerns, der Selbstverdammung und der Selbstgerechtigkeit erhoben hat, daß er erkennt, welche Lehren er dadurch erhält, daß er geduldig warten lernt.

Warten müssen und warten lernen sind zwei verschiedene Dinge. Wir müssen alle mehr oder weniger warten, und wir tun es mehr oder weniger bereitwillig, je nach unserer Veranlagung und unserer sogenannten „menschlichen Ausdauer;“ aber nur die wahrhaft Großen haben warten gelernt, nur diejenigen, deren Blick so klar geworden ist, daß sie die einsamen Höhen ersteigen konnten, wo dieses seltene Edelweiß der menschlichen Erfahrung wächst. Für solche sind die Stunden des Wartens angenehme Ruheorte auf ihrer täglichen Reise, wo sie sich momentan mit klareren Lichtblicken der allweisen Absichten erfrischen und freudigen Herzens die weise Führung des unfehlbaren Gemüts, der unwandelbaren Wahrheit und der stets gegenwärtigen, stets dienstbereiten Liebe anerkennen können.

Sie, die das Warten so gründlich gelernt hatte wie nur ein anderer vor ihr, spricht in einem ihrer Gedichte (Poems, S. 4) von der Gegenwart, dem Frieden, der Freude und der Macht der göttlichen Liebe, der jede Stunde des Wartens gehört. Wenn also dem Leben oder Gott diese Stunden wie überhaupt alle Stunden in unserem Leben gehören, wie können sie dann mit etwas anderem als mit Frieden und Freude erfüllt sein. Die Dinge erscheinen uns gewiß in einem anderen Lichte, wenn wir bedenken, daß gerade inmitten der Furcht und des Zitterns nur Gott gegenwärtig ist. Wenn diese Erfahrung vorüber ist und wir wieder glücklich auf der Reise sind, dann ist es um so angenehmer für uns, auf eine fruchtbare, grüne Oase in der Sandwüste zurückzuschauen und zu erkennen, daß uns in Wirklichkeit nicht die grausame Macht des Irrtums dort zurückgehalten hat, sondern die sanft nötigende Hand der Liebe, und daß uns diese deshalb nicht gehen ließ, weil dies für uns gefährlich gewesen wäre, ehe wir die uns erteilte Lehre zu Herzen genommen hatten.

Könnte man hieraus schließen, daß das ewige Jetzt des göttlichen Gemüts nicht eine stets gegenwärtige und demonstrierbare Tatsache ist? Keineswegs. Es soll nur heißen, daß dem menschlichen Sinn gemäß noch nicht alle Vernunft unter den Gehorsam des Gesetzes Christi gefangen genommen worden ist; daß wir unablässig bestrebt sein müssen, unser Denken in Ordnung zu bringen, damit jeder falsche menschliche Begriff in unserem Bewußtsein durch eine vollkommene geistige Idee ersetzt werde, von der er nur eine schlechte Nachbildung ist. Dies ist nicht das Werk eines Augenblicks oder eines Tages. Wie bald es vollendet sein wird, weiß niemand, „auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.“ Nur so viel wissen wir, daß, wenn wir standhaft sind, die Zeit gewiß kommen wird, wo die letzten Fetzen der falschen Vorstellung auf immer von den erfrischenden, lebenspendenden Winden der Wahrheit hinweggeweht sein werden.

Es gibt stets eine rechte Zeit für jedes rechte Ding — vergessen wir das nie; aber das rechte Ding, zur unrechten Zeit getan, wird leicht zum unrechten Ding. Auch das wollen wir nicht vergessen. Ist es somit nicht besser, Gott die Zeit bestimmen zu lassen? Mrs. Eddy schrieb einstmals (Miscellaneous Writings, S. 117): „Nach meinem Kalender ist ein Unterschied zwischen Gottes Zeit und der Zeit der Sterblichen. Der Neuling ist geneigt, zu schnell oder aber zu langsam zu handeln ... Gott ist der Quell des Lichtes, und Er erleuchtet unseren Pfad, wenn wir gehorsam sind. Die Ungehorsamen handeln ehe Gott handelt, oder sie handeln zu spät, um Ihm nachfolgen zu können.“ Haben wir nicht vielleicht ganz unbewußt entschieden, wie Gott handeln sollte, und uns dann gewundert, warum Er uns so lange warten läßt, ehe er handelt? Zerlegen wir doch unsere Gedanken, um festzustellen, ob wir nicht versucht haben zu bestimmen, in welcher Weise unser Problem, das so schwierig erscheint, zur Lösung kommen müsse. Haben wir nicht gesucht, selber auszurechnen, daß erst etwas geschehen müsse, ehe ein erwünschter Zweck erreicht werden könne — daß diese Person dieses, oder jene Person etwas anderes tun müsse, ehe es uns möglich sei, unser Problem „auszuarbeiten“?

Das Gebet, welches vorschreibt, wie es erhört werden sollte, ist nach Auffassung der Christlichen Wissenschaft gar kein Gebet. Hören wir daher auf, ein bestimmtes Geschehnis zu erwarten, und fangen wir an, uns bewußt zu werden, daß in Gottes vollkommenem Weltall nichts zu geschehen braucht, damit Harmonie hergestellt werde, denn Harmonie ist bereits eine feststehende Tatsache. Es ist nicht nötig, daß wir etwas ändern, oder etwas tun, oder etwas erlangen, um den Menschen vollkommen zu machen, denn er ist es bereits, der göttlichen Bestimmung gemäß. Der Bergsee bedarf keiner Hilfe von außen, um die Schönheit des Himmels und der Wolken und der bewaldeten Höhen wiederzuspiegeln. Nichts braucht zu „geschehen“ als daß er stille sei.

Unsere Führerin sagt in Wissenschaft und Gesundheit (S. 454): „Warte geduldig, bis die göttliche Liebe auf den Wassern des sterblichen Gemüts schwebt und den vollkommenen Begriff bildet.“ Dieses geduldige Harren auf die Liebe hat jedoch nichts gemein mit mentaler Trägheit; es bedeutet nicht, daß man gelassen die Hände falten und in einen Zustand der hilflosen Stumpfheit verfallen darf. Das Warten kann passiv oder aber äußerst aktiv sein. Ein schläfriger Mittag im Sommer, wann die Schatten unbeweglich sind und das Vieh lässig unter den Bäumen steht, auf denen sich kein Blatt bewegt — dies kann als Bild des passiven Wartens dienen. Es umfaßt kein Wünschen und Hoffen; die Stille herrscht nur deshalb, weil nichts vorhanden ist, was Bewegung verursacht. Ganz anders ist die Stille im Falle eines Menschen, der bei Tagesanbruch auf einer Bergeshöhe sitzt und den Sonnenaufgang erwartet. Er sieht einem Ereignis entgegen, von dessen Kommen er überzeugt ist. Kein Laut stört die feierliche Stille, kein Blatt rührt sich, kein Vogelgesang ist zu hören, ja selbst die einsame Figur ist regungslos. Und doch atmet die lautlose Stille ein freudiges Erwarten.

Sollen wir nicht auf das Kommen des Christus, der Wahrheit, mit dem gleichen unerschütterlichen Vertrauen warten, wie der Bergsteiger auf den Sonnenaufgang wartet? Dunkle Wolken mögen uns zur Zeit umgeben, und kein Stern mag die finstere Nacht durchdringen; wenn wir aber, wie der einsame Wächter, ruhig und vertrauensvoll warten, so dringt nach einer Weile ein leiser Vogelton der Hoffnung an unser Ohr, die Blätter fangen an sich zu bewegen, bald färbt ein zartes Rot die Wolken, bis diese goldig erglänzen, geräuschlos wegrollen und der Pracht des Sonnenaufgangs Raum geben.

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