Seit den Tagen der alten Propheten haben die Menschen die Vögel als Symbol der Freiheit angesehen, als Sinnbild der beglückenden Befreiung von den Lasten und Banden, die das sterbliche Gemüt dem Menschen, den es selber schafft, auferlegt hat. Im Adler sah David die Eigenschaften der Jugend zum Ausdruck gebracht: Freiheit, Spannkraft, Stärke, Tätigkeit, Hoffnung, wie man sie so allgemein mit dem Höhepunkt des Lebens in Verbindung bringt. Jesaja sah in den Flügeln des Adlers das Symbol des aufwärtsgerichteten Denkens, welches die, so auf den Herrn harren, so erhebt, daß sie in dem sicheren Gefühl der Befreiung von den Banden der Materialität „neue Kraft“ bekommen, ja sogar „auffahren mit Flügeln wie Adler,“ oder falls sie auf der Erde bleiben, „laufen und nicht matt werden, ... wandeln und nicht müde werden.“
Die großen Dichter haben sich der gleichen Symbolik bedient, indem sie in den Vöglen ihren höchsten Idealismus versinnbildlicht sahen, wie diese, frei von den Lasten der Erde, sich zu unabsehbarer Höhe emporschwingen und mit ihren Fittichen „die Tore des Himmels“ berühren. In einem Jugendgedicht Wordsworths, „An eine Feldlerche,“ finden wir folgende Worte:
Hinauf, hinauf mit mir in die Wolken!
. . . . . . . . . .
Du glücklicher Lebender,
Mit einer Seele so stark wie ein Bergstrom,
Dem das Lob des allmächtigen Gebers entströmt.
Welche Freude, welches Glück, welcher Frohsinn kommt doch durch den Flug der Feldlerche zum Ausdruck! Von ihrem Nest auf der Erde steigt sie in spiralförmigen Kreisen in die blauen Lüfte empor, bis sie zuletzt dem Auge entschwindet, und dabei läßt sie ununterbrochen ihr herrliches Lied erklingen, das man selbst dann noch hören kann, wenn die Sängerin nicht mehr zu sehen ist. Wie vollkommen versinnbildlicht doch diese unnachahmbare Leistung das Aufwärtsstreben des menschlichen Bewußtseins! Für den Dichter ist die Ähnlichkeit von jeher unwiderstehlich gewesen, denn er sieht hier das Gegenstück zu seiner eigenen geistigen Erhebung — einer Erfahrung, die dem, der mit den Schlacken und dem Unrat der Erde beschwert ist, allerdings idealistisch und unpraktisch vorkommt. Aber gerade diese Erfahrung, diese mentale Erhebung, diese Wonne des Herzens ist im Bereich eines jeden, der auch nur einigermaßen die Wahrheit seines Seins erkennen lernt. Wie leicht wird doch die Last, wie behende wirft man sie ab, wie rasch lösen sich die Bande, wenn man Gott als den unendlichen Vater-Mutter, als die vollkommene Liebe, als die einzige Ursache und den einzigen Schöpfer des Weltalls erkannt hat; wenn man sieht, daß Gott im Menschen völlig zum Ausdruck kommt, daß dieser so vollkommen und ewig ist wie Gott selber, daß der alte Mensch, der furchterfüllte, zweifelnde, kranke und sterbliche Mensch keinen Raum hat in der vollkommenen Unendlichkeit der Wahrheit, sondern eine Lüge ist, ein Traum, aus dem das Bewußtsein erwachen muß. Ist es ein Wunder, daß das Herze emporsteigt und singt, daß es in wonniger Freiheit mit der Lerche wetteifert? Gleichzeitig mit diesem Erwachen erscheint eine neue Welt, der neue Himmel und die neue Erde, das Reich der Wirklichkeit, in dem es kein irdisches Leid und keine irdischen Bande gibt. Und je mehr sich der Ausblick erweitert, desto mehr vertieft sich das Gefühl der Freiheit.
Irgendwo auf diesem Pfad des aufwärtssteigenden Denkens, der geistigen Entfaltung, wird im menschlichen Bewußtsein die große Tatsache offenbar, daß der Mensch als das Ebenbild, als der Ausdruck Gottes nichts anderes vermag als Gutes wiederzuspiegeln, und daß dies die einzige Tätigkeit oder Beschäftigung ist, die er je hatte, dier er jetzt hat, oder die er je haben wird. All die nützlichen Gewerbe, Industrien und Dienstleistungen, welche die Menschen für nötig gehalten haben, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, erweisen sich somit als Mittel, durch welche die göttliche Liebe zum Ausdruck kommt, in Übereinstimmung mit dem guten und vollkommenen Gotteswillen. Wenn man erkennt, daß der Mensch „nur der demütige Diener des ruhevollen Gemüts ist“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 119), sieht man das Wesen wahrer Wirksamkeit mehr im göttlichen Lichte, und man versieht dann selbst die mühsameren und geringeren Arten der Arbeit froh und freudig. Das Herze singt und die Müdigkeit verschwindet.
„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid: Ich will euch erquicken.“ Mit diesen liebevollen Worten werden wir aufgefordert, die Fesseln der materiellen Sinne abzustreifen und in der segensreichen Arbeit an der Sache Christi vollkommene Ruhe und geistiges Glück zu finden. Mrs. Eddy sagt uns (Wissenschaft und Gesundheit, S. 265): „Die Sterblichen müssen zu Gott hinstreben, ihre Neigungen und Ziele müssen geistig werden — sie müssen sich den umfassenderen Auffassungen vom Sein nähren und etwas von dem eigentlichen Sinn des Unendlichen gewinnen — damit sie Sünde und Sterblichkeit ablegen können.“ Dies ist unsere Aufgabe, ja es ist unser Vorrecht. Der Weg ist uns so genau gezeigt worden, daß jeder ernste Sucher nach Wahrheit ihn finden und ihn gehen kann. Indem wir so voran schreiten ud uns in das Reich des Lichtes erheben, wird uns zur Erfahrung, was der Dichter Samuel Longfellow in folgenden Worten voraussieht:
Der leicht're Schritt, die frei're Brust,
Des Horizontes weit'rer Kreis,
Das Leben, das den Tod nicht kennt,
Das alles neu zu schaffen weiß.