Jeder Bibelleser kennt die Gleichnisse vom barmherzigen Samariter und vom verlorenen Sohn. Keiner kann sie lesen, ohne von ihrer Einfachheit und von der Tiefe des Erbarmens, das sie veranschaulichen, tief gerührt zu sein. In der Geschichte vom barmherzigen Samariter, wie wir sie im zehnten Kapitel des Lukas-Evangeliums lesen, wird von einem Manne erzählt, der verwundet worden war und hilflos am Wege lag. Während er sich in diesem bedauernswerten Zustand befand, kam ein Priester und kurz darauf ein Levit des Weges; aber beide gingen vorüber. „Ein Samariter aber reiste und kam dahin; und da er ihn sah, jammerte ihn sein.“ Sodann erzählt das Gleichnis von dem werktätigen Erbarmen des Samariters. Der Verwundete wurde der zärtlichen Fürsorge derer übergeben, die ihn bis zu seiner Genesung Pflegen würden.
Und was das Gleichnis vom verlorenen Sohn betrifft, war es nicht des Vaters Erbarmen gegen den irrgeleiteten Jüngling, das uns die Kraft erkennen läßt, die den Wanderer in die Heimat zurückführt — an den Ort, wo Friede und Liebe und eine moralisch gesunde Atmosphäre herrschte? Wie wunderbar sind doch die Worte: „Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn, lief und fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn.“ Das war Erbarmen — Erbarmen als Ergebnis jenes tiefen geistigen Bewußtseins, das selbst dann, als das Böse dem menschlichen Sinn sehr wirklich erschien, das unvergängliche Wesen des Guten und die Allmacht der Liebe beharrlich im Auge behielt, bis das reumütige Herz geheilt war.
Diese Gleichnisse enthalten wichtige Lehren. Ein jeder, der das Studium der Christlichen Wissenschaft allen Ernstes in Angriff genommen hat und bemüht ist, ihren Lehren gemäß zu leben, muß zu der Einsicht gelangen, daß der Buchstabe wohl nötig ist, der Geist aber erst lebendig macht. Man könnte den ganzen Text von Wissenschaft und Gesundheit auswendig lernen, ohne imstande zu sein, einen einzigen Fall von Sünde oder Krankheit auf metaphysischem Wege zu heilen. Der wahre christliche Geist, welcher auf der Erkenntnis der Wirklichkeit und Allheit des Guten beruht, muß hinter dem Buchstaben stehen und diesem das Gold der geistigen Bedeutung abgewinnen. Mrs. Eddy wies in ihrer Botschaft von 1902 (S. 18) auf die unwandelbare Haltung Christi Jesu hin, wenn sie sagt: „Jesus war erbarmend, wahr, treu im Ermahnen, stets zum Vergeben bereit. Er sagte: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.‘“
Der Nazarener wird allgemein als der gottgleichste Mensch angesehen, der je auf Erden gelebt hat. Er heilte Krankheit und Sünde jeder Art und erweckte die Toten. In einem jeden derartigen Fall hob er ein sogenanntes materielles Gesetz auf. Wie tat er diese wunderbaren Werke? Die Christliche Wissenschaft gibt uns die Erklärung. Er vollbrachte sie vermöge seines Verständnisses von der Allheit Gottes und von Seiner vollkommenen geistigen Schöpfung. Er war so genau mit der Wirklichkeit, mit Gott und Seiner Idee bekannt und durchschaute so klar das Wesen jeder falschen Vorstellung vom Bösen, die sich der Menschheit aufdrängt, daß er, obgleich er in der Welt war, abseits von ihr stehen konnte und dadurch imstande war, erbarmungsvoll die Kämpfe und Versuchungen seiner Mitmenschen zu sehen und stets alle, die sich ihm demütig und bußfertig nahten, zu heilen. Jesus weinte angesichts des Materialismus Jerusalems, denn er sah die Zerstörung dieser Stadt bestimmt voraus. Die bösen Vorstellungen der Welt schmerzten ihn sehr, trugen aber gleichzeitig dazu bei, durch sein Erbarmen, das durch Tränen versinnbildlicht wurde, die Reinheit seines Bewußtseins kundzutun.
Es ist unmöglich, Jesu Heilungswerk von der Idee des Erbarmens zu trennen. Nie aber entschuldigte der Meister das Böse. Er wußte, wie sehr es die Welt betrog. Er konnte das Böse scharf tadeln, aber hinter seinem Tadel lag stets seine Kenntnis von der Allmacht der göttlichen Liebe. So muß es auch bei der Ausübung der Christlichen Wissenschaft stets gehalten werden. Es mag zuweilen nötig sein, auf das Irrige an einer gewissen Gedankenrichtung oder Verfahrungsweise hinzuweisen; aber wie klug muß man doch dabei zu Werke gehen! Es sei denn, der Christliche Wissenschafter hat das Erbarmen, welches durch das Verständnis von der Allgegenwart der göttlichen Liebe erzeugt wird, so ist es besser, er sagt nichts. Die Kranken sind zuweilen sehr empfindlich. Es ist daher sehr nötig, sich ihnen mit einem Bewußtsein zu nähren, das die Wahrheit des Seins ausstrahlt. Die bloße Gegenwart des Praktikers der Christlichen Wissenschaft heilt nicht; vielmehr ist es seine Erkenntnis der Wahrheit, die ihn befähigt, den Irrtum aufzudecken, damit er vernichtet werde. Mrs. Eddy schreibt auf Seite 365 ihres Werkes Wissenschaft und Gesundheit: „Wenn der Wissenschafter seinen Patienten durch die göttliche Liebe erreicht, wird das Heilungswerk in einem Besuch vollbracht werden, und die Krankheit wird wie der Tau vor der Morgensonne in ihr natürliches Nichts vergehen.“ Es ist dies keine außergewöhnliche Erfahrung in der Praxis der Christlichen Wissenschaft. Und sie erfüllt alle, die in ihren Bereich kommen, mit unaussprechlicher Dankbarkeit.
Erbarmen ist ein wohltuender Zustand des Bewußtseins, der der geistigen Erkenntnis entspringt. Man kann es sich nicht als für sich allein bestehend denken. Zartgefühl, Vertrauen, Hoffnung, Demut, Ehrlichkeit sind stets seine Begleiter. Diese Verbindung läßt eines Menschen geistige Erkenntnis der Wahrheit klar erkennen. Wir müssen von Zeit zu Zeit still stehen, um genau festzustellen, wo wir uns befinden, wie getreu wir dem Prinzip gehorchen; und dies geht aus dem Erbarmen hervor, das wir in unserem Umgang mit der leidenden Menschheit an den Tag legen. Erbarmen ist sehr nahe verwandt mit der Liebe, welche Paulus in dem unsterblichen dreizehnten Kapitel seines ersten Briefes an die Korinther preist. Wer kann seine Zusammenfassung vergessen? „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“
Zuweilen ist das harte Gestein des Irrtums sehr schwer zu lösen. Das menschliche Gemüt widersteht der Wahrheit, und die Menschen weigern sich oft, sie anzuerkennen, bis Leiden sie von der Unzulänglichkeit aller materiellen Hilfe überzeugt hat. Wenn sie sich aber dann allen Ernstes der Wahrheit zuwenden, muß man ihnen mit Liebe und Erbarmen entgegenkommen. Das zerbrochene Herz muß verbunden werden; erst dann erfolgt Heilung. Mrs. Eddy beschreibt die Beziehung zwischen dem Christlichen Wissenschafter und demjenigen, dem er helfen will, mit folgenden Worten: „Wenn wir den Kranken die Türen ihrer Gefängnisse öffnen wollen, müssen wir erst lernen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 366). Hieraus ergibt sich doch gewiß, daß das Erbarmen stets im Dienste der geistigen Erkenntnis steht.