Es hat nie einen besonderen Wert, in den Wörterbüchern viel nach der Bedeutung von Wörtern zu forschen, die in der Bibel vorkommen. Interessant mag das sein, aber darauf kommt es hier nicht an. In der Regel bedeutet es eine große Zeitverschwendung, denn die genaue Auslegung eines Wortes kann man stets finden, wenn man den geistigen Sinn der betreffenden Stelle zum Maßstab nimmt.
Nehmen wir z. B. das englische Wort righteousness, Gerechtigkeit. Es ist ganz einerlei, welche Bedeutung dieses Wort im zehnten Jahrhundert oder gar im ursprünglichen Altenglisch hatte. Die Frage ist nur, was dieses Wort in dem elisabethanischen Englisch bedeutet, welches bei der unter König Jakob I. angefertigten Übersetzung in Anwendung kam, denn dieses sollte das wahre Äquivalent für das Griechische sein. Selbst wenn sich der Schüler an ursprünglichere Quellen wendet, muß er das Wort im griechischen Text bis zu seiner Bedeutung in dem Griechisch der Zeit, als das erste Evangelium verfaßt wurde, verfolgen. Er muß zunächst feststellen, wann das Manuskript entstanden ist, und dann das Äquivalent des Griechischen — und zwar nicht in der gewöhnlichen Literatur des Landes, sondern in dem unechten Griechisch mit seinem Idiom der Bootsleute, koine genannt, dessen sich die Verfasser der vier Evangelien bedienten. Ist der Forscher an diesem Punkte angelangt, dann wird er wohl zu der Einsicht gelangt sein, daß er sicherer geht, wenn er sich wegen Erleuchtung auf seine eigene geistige Wahrnehmung verläßt.
Hiervon ist das Wort Gerechtigkeit ein sehr einfaches Beispiel. Wohin man auch dessen Ursprung verfolgt, man kommt stets auf den gleichen Punkt zurück. Ursprünglich mag es rechtes oder wahres Richten bedeutet haben, aber auf alle Fälle ist mit demselben die Beobachtung der Regeln des Rechtes oder der Aufrichtigkeit gemeint, was zufälligerweise der Bedeutung des altenglischen Wortes gleichkommt. Gerechtigkeit heißt Richtigkeit, die Beobachtung des Prinzips oder der Wahrheit. Es folgt also naturgemäß, daß diejenigen, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, gesättigt werden, wie Jesus in der Bergpredigt erklärt. Denn der Meister erklärte ferner, daß diejenigen, die die Wahrheit erkennen, durch die Wahrheit befreit werden.
Nun hungert und dürstet aber derjenige nach Gerechtigkeit, der das Rechte oder die Wahrheit mehr als alles andere in der Welt begehrt, und der, weil er dieses Verlangen hat, sicherlich satt werden oder das Begehrte erlangen wird. Da nun ferner die Wahrheit naturgemäß geistig ist und geistig sein muß, so muß der Mensch, der die Wahrheit von ganzem Herzen sucht, der ganzen Skala der physischen Sinne und somit dem Glauben an ein Leben in der Materie den Rücken kehren. Wer diese Frage auch nur einen Augenblick in Erwägung zieht, muß zugeben, daß alles Unrechttun dem Verlangen entspringt, die Sinne zu befriedigen, und daß daher der Mensch, der die Suggestionen der Sinne zurückweist, nicht umhin kann, die Wahrheit zu erkennen und so das ewige Leben zu erlangen; denn, wie Jesus selber erklärte: „Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christ, erkennen.“ Mit anderen Worten, der Mensch muß die Wahrheit erkennen und durch diese Erkenntnis von den Banden der Sünde befreit werden. „Sinnlichkeit,“ sagt Mrs. Eddy, „ist nicht Seligkeit, sondern Knechtschaft. Um wahrhaft glücklich zu sein, muß der Mensch mit seinem Prinzip, der göttlichen Liebe, in Harmonie sein; der Sohn muß im Einklang mit dem Vater stehen, in Übereinstimmung mit Christus“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 337).
Die Anziehungskraft der Sinne liegt in ihrer Suggestion, daß der Mensch nur dann das Leben genießen könne, wenn er sich diesen Sinnen unterwirft. Ihre Täuschung liegt in der Tatsache, daß sie die unausbleibliche Pein verbergen, welche sicher folgt, wenn man sie befriedigt. Je lebhafter nun die Freude ist, die die Sinne bereiten, desto wahrscheinlicher kommt der Mensch unter die Botmäßigkeit der Materie und tritt dadurch nicht dem Leben sondern dem Tode näher. Wie entfernt auch die Ernte des Schmerzes zu sein scheint, sie ist eine stets vorhandene Möglichkeit, es sei denn, die Wahrheit wird rechtzeitig erkannt. Hier nun offenbart sich das Gesetz der Ursache und Wirkung, welches Jesus der Welt in der Geschichte vom reichen Manne dartut. Dieser Weltmensch ließ allen Freuden der Sinne die Zügel schießen. Niemand warnte ihn vor den ihm bevorstehenden Schmerzen. Erst als er in der Hölle und in der Qual war, erkannte er, was ihm sein Hungern und Dürsten nach sinnlichen Genüssen gebracht hatte, nämlich einen Glauben an die Wirklichkeit der materiellen Schmerzen; und dieser Glaube war so stark, daß er sich nicht von ihm befreien konnte. Lazarus andererseits fand seine Hölle in einem Glauben an die Materie, der ihm in diesem Leben Pein bereitete. Dadurch wurde die Liebe zur Materie in ihm verbrannt, und er empfand jenseits des Grabes einen höheren Grad des Friedens.
Mag es auch sonderbar erscheinen, so ist es doch Tatsache, daß der reiche Mann und der arme Lazarus beide nach der Materie hungerten und dürsteten, aber von entgegengesetzten Polen aus. Der reiche Mann hatte all die sinnlichen Genüsse der Materie gefunden, Lazarus hingegen all die sinnlichen Schmerzen der Materie. Die Erfahrung des Lazarus trennte ihn natürlicherweise etwas mehr von der Materie, und er war somit fähiger, nach Gerechtigkeit zu hungern und zu dürsten. Nichtsdestoweniger unterschieden sich seine Erfahrung und die des reichen Mannes nur dadurch, daß sie antithetisch waren. Der oberflächliche Unterschied zwischen dem Anachoreten und dem Sybariten ist der, daß der eine die Materie fürchtet und der andere sie liebt; aber wissenschaftlich betrachtet sind sie beide Materialisten, d.h. die Materie erscheint beiden gleich wirklich. Beide hungern und dürsten auf ihre Weise nach der Materie, ihre Gedanken sind fortwährend auf die Materie gerichtet. Jesus kam auf Erden, um diesen mesmerischen Bann zu brechen — um die Menschen nicht nur zu ermahnen, ihre Gedanken auf Gerechtigkeit, auf Richtigkeit und Wahrheit zu richten, sondern sie auch zu lehren, wie sie das tun könnten. Mit anderen Worten, er wollte ihnen zeigen, daß in dem Maße, wie ihr sterbliches oder menschliches Gemüt dem Gemüt Christi zu weichen bereit sei, ihr sterbliches oder menschliches Bewußtsein dem geistigen Bewußtsein weichen werde, was die Fleischwerdung, die Offenbarung Gottes, der Wahrheit, im Fleisch bedeutet. Nicht als ob dieses sterbliche oder menschliche Bewußtsein besser oder reiner werden könnte, sondern es wird dem Gesetz der Vernichtung preisgegeben, von dem Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit sagt (S. 243): „Wahrheit, Leben und Liebe sind ein Gesetz der Vernichtung gegen alles ihnen Unähnliche, weil sie nichts verkünden außer Gott.“
Es gibt nur ein Gemüt und kann nur ein Gemüt geben, einschließlich dessen Idee, des Menschen oder der unendlichen Schöpfung, zum Bild und Gleichnis Gottes geschaffen. Wenn aber das fleischliche Gemüt anfängt, dem göttlichen Gemüt zu weichen, dann fängt das Gesetz der Vernichtung an, auf das Vermeintliche oder Unwirkliche einzuwirken. Das Menschliche oder Zeitliche wird vernichtet, und das Geistige und Ewige beginnt sich kundzutun, schon während der Mensch noch im Fleisch ist. Mrs. Eddy sagt in Wissenschaft und Gesundheit (S. 573): „Dieses Zeugnis der Heiligen Schrift erhält die Tatsache in der Wissenschaft aufrecht, daß Himmel und Erde für das eine menschliche Bewußtsein, nämlich für das Bewußtsein, das Gott verleiht, geistig sind, während für das andre, für das unerleuchtete menschliche Gemüt, die Vision materiell ist.“ Das Gesetz der Vernichtung war wirksam gewesen. Das Bewußtsein der Menschheit oder die Materie ist in gewissem Grade dem Bewußtsein des Geistes gewichen. Aber das Geistige ist es, das sich, während der Mensch noch menschlich ist, an Stelle des von der Wahrheit vernichteten menschlichen Bewußtseins kundtut. Und so wird Gott, die Wahrheit, im Fleisch geoffenbart — also durch das Überwinden von etwas, was Ihm ungleich ist, sei es Sünde, Krankheit oder Tod.
Um nun das Bewußtsein zu erlangen, daß von Gott, der Wahrheit, kommt, muß der Mensch nach Gerechtigkeit, nach der Richtigkeit oder Wahrheit hungern und dürsten.
