Matthäus erzählt im vierten Kapitel seines Evangeliums ein Begebnis, welches von besonderem Interesse für die Christlichen Wissenschafter ist. Indem er uns die Versuchung Jesu in der Wüste beschreibt, läßt er uns deutlich sehen, daß das Böse keine Macht hat, den Gottesmenschen zu betrügen oder zu beherrschen, auch weist er darauf hin, daß die Befreiung der Menschen unausbleiblich erfolgt, wenn sie sich weigern, in die Pläne des Bösen einzuwilligen, und wenn diese Weigerung auf geistiger Erkenntnis beruht.
Stellen wir zunächst fest, in was für einer Lage sich Jesus befand. Er war in der Wüste, für die Mrs. Eddy folgende Definition auf Seite 597 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ gibt: „Einsamkeit; Zweifel; Finsternis.“ Einen solchen Zustand betrachtet das Böse als für die Suggestionen der Versuchung besonders günstig; aber in der Erklärung, daß Jesus versucht werden sollte, wird die Möglichkeit nicht angedeutet, daß er in Gefahr war, zu unterliegen. Als der Irrtum zunächst versuchte, Jesus das Zugeständnis abzulocken, daß der Mensch noch etwas anderes außer geistige Erkenntnis zu seinem Unterhalt und Wohlbefinden nötig habe, daß man sündigen könne, ohne dafür leiden zu müssen, und daß materielles Besitztum den Menschen bereichere, fanden diese handgreiflichen Lügen nicht einen Augenblick Anklang in seinem Bewußtsein, denn er wußte bereits auf Grund seiner Demonstrationen, daß der Mensch von dem Wort Gottes lebt, daß das Böse den Menschen nicht versuchen kann, und daß des Reiches Kraft und Herrlichkeit allein von Gott kommt. Um es noch deutlicher auszudrücken: es war von Jesus verlangt worden, die Allheit Gottes zu leugnen. Dies ist stets das erste Bestreben des Irrtums, dies allein bietet ihm die Gelegenheit, Herr über uns zu werden. Da aber Jesus wußte, daß das Böse in Wirklichkeit nicht besteht, ließ er sich nicht durch dessen Pose als Geber von Gutem oder Bösem beirren.
Was für eine Rolle spielte nun eigentlich das Böse bei dieser Begegnung? Es hatte die beste Gelegenheit, alle Künste des tierischen Magnetismus und der mentalen Suggestion, deren es sich rühmte, anzuwenden. Das sterbliche Gemüt hat dem Teufel in der Rolle des Versuchers allerlei listige Handlungsweisen, unwiderstehliche Umstände und schlaue Manipulationen zugeschrieben, die gewöhnlich zu einem tragischen Ende führen. Wenn wir jedoch diese biblische Erzählung weiter verfolgen, erkennen wir die völlige Machtlosigkeit des Bösen. Wir lesen von keinem Zwang, von keinem Versuch des Teufels, Hand an Jesus zu legen. Es wird uns nicht erzählt, daß er von der Zinne des Tempels hinabgestoßen oder herabgelockt, oder daß er eingeschüchtert oder überlistet worden wäre, sich dem Teufel zu unterwerfen. Die höchste Anstrengung des Irrtums scheint in der Suggestion bestanden zu haben, Jesus solle sich vom Tempel herabstürzen. Hätte Jesus dieser Suggestion gemäß gehandelt, so wäre er infolge seiner Einwilligung der Versuchung zum Opfer gefallen.
Wenn man den Scheinwerfer der geistigen Erkenntnis auf diese Erzählung richtet, dann sieht man, daß das Böse nur ein mutmaßlicher Feind ohne Findigkeit und Kraft ist, und daß seine Propaganda vergeblich, sein Angriff unschädlich, seine Autokratie gestürzt und seine völlige Niederlage gewiß ist. Das Böse hat keine Mittel und Wege, um mental, moralisch, physisch oder geistig über die Christus-Idee zu siegen. Es vermag tatsächlich keinen gefallenen Menschen hervorzubringen. Es hört sogar auf, auch nur scheinbar als Versucher oder als Versuchung zu bestehen, sobald der Mensch erkennt, daß er in dem Reiche des Geistes geborgen ist. Der Sieg des Christus kennt keine Abstufungen; er ist absolut.
Aus der Erzählung des Apostels geht klar hervor, daß das von Gott regierte Bewußtsein des einzelnen überall der Versuchung zu sündigen, zu leiden oder zu sterben, ernstlich und mit Erfolg widerstehen kann, und zwar nicht durch Willenskraft, sondern durch die Kraft göttlicher Erkenntnis. Eine Einladung, schließt stets das Recht der Absage in sich. So gibt es auch keine böse Macht, die uns zwingen könnte, der Versuchung des Irrtums nachzugeben. Daher scheitern die Pläne des Irrtums, wenn man seine Zustimmung verweigert. Jesu Begegnung mit dem Bösen endigte mit seiner Weigerung, dessen Suggestionen zu willfahren; deshalb lesen wir: „Da verließ ihn der Teufel; und siehe, da traten die Engel zu ihm und dienten ihm.“
Des Matthäus’ klare Darlegung der Nichtigkeit der Versuchung steht in auffallendem Gegensatz zu der Annahme der Welt, daß die Versuchung Macht besitze. Nun enthält aber der Bericht des Apostels die Wahrheit, und die Zeit ist gekommen, wo die Menschheit erwachen und an die frohe Botschaft glauben muß. Die Tatsache, daß Jesus in jeder Hinsicht versucht ward, gleichwie wir, doch ohne Sünde, gibt uns die frohe Gewißheit, daß Jesu menschliche Natur die gleiche war wie die unsere. Gestand er nicht die volle geistige Kraft, auf die er Anspruch machte, allen Menschen zu? Wer daher in seinem Innern denkt: „Ich könnte der Versuchung widerstehen, wenn ich nur zu Hause wäre, oder wenn ich jemand um mich hätte, der stärker ist als ich, oder wenn ich mich an irgendeinem anderen Ort befände als hier“— wer so denkt, täte wohl daran, wie Jesus, sein älterer Bruder, an die Allgewalt und Allgegenwart des Guten und an die daraus sich ergebende Nichtsheit des Bösen zu denken. Es ist auch unser göttliches Recht, ohne Sünde aus der Versuchung hervorzugehen. Möchte doch ein jeder von uns die gewisse Zuversicht haben, die den Meister während des Verhörs vor Pilatus sagen ließ: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre von obenherab gegeben.“ Und Gott gibt dem Bösen niemals Macht, noch hat Er es zur Ausführung Seiner Pläne nötig.
Alles, was das Böse tun kann, erscheine es in der Gestalt einer bösartigen Krankheit, einer bitteren Enttäuschung, eines sinnlichen Vergnügens, einer großen Furcht oder einer heransausenden Kugel, hat es dann getan, wenn es seine Ansprüche geltend gemacht hat. Es besitzt kein einziges Element, auf Grund dessen es weitere Argumente vorbringen könnte. Wenn man ihm mit der Erkenntnis der Vollkommenheit des Lebens und der Geistigkeit des Menschen entgegentritt, dann ist seine kurze Laufbahn beendet. Sobald man das Ansinnen, die Behauptung des Bösen für wahr zu halten, entschieden zurückweist und sich weigert, von der Höhe der bewußten geistigen Erkenntnis herabzustürzen, nimmt die Versuchung ein Ende. Mrs. Eddy sagt auf Seite 6 von „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany“: „In unserem vom falschen Selbst befreiten Selbst weilen heißt, daß man sich für immer abwendet von den Sünden des Fleisches, von den Irrtümern des menschlichen Lebens, von dem Versucher und der Versuchung, dem Lächeln und dem Betrug der Verdammnis.“
Der tapfere christliche Streiter von heute hält die Linie der Rechtschaffenheit in dem Maße, wie Seele den materiellen Sinn in der Erfahrung des einzelnen wie der Allgemeinheit überwindet. Auch er wird „vom Geist in die Wüste geführt;“ infolge seiner Treue gegen das Prinzip sieht er sich der Notwendigkeit gegenübergestellt, die Stätten der Finsternis, der Furcht und der Versuchung aufzusuchen, um des angeblichen Bösen Herr zu werden. Hierbei erweist sich ihm die Christliche Wissenschaft als Befreier, denn sie lehrt ihn, daß er imstande sein wird, seinen unwirklichen Widersacher sehr bald zu besiegen, wenn er sich des sterblichen Hörens und des sterblichen Wähnens enthält und sich von dem Worte Gottes speisen läßt. Dann wird auch er es erfahren, daß ihn eine solche Begegnung auf den Berg der Heiligkeit führen wird, anstatt ihn in das Tal der Sünde hinabzustoßen. Er wird sich bei seinem Ringen nicht einsam fühlen, denn Gottes Engel geistiger Eingebung werden bei ihm sein und ihm liebevoll dienen. So wird seine Wüste, aus der der Versucher und die Versuchung der falschen Annahme geflohen sind, in den Ort verwandelt werden, den unsere Führerin mit folgenden Worten beschreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 597): „Unmittelbarkeit des Gedankens und der Idee; der Vorhof, in welchem der materielle Sinn der Dinge verschwindet, und der geistige Sinn die großen Tatsachen des Daseins zur Entfaltung bringt.“
