Vor kurzem mußte ich beim Besuch einer bekannten Strafanstalt an die Wahrheit denken, die der Dichter Richard Lovelace im siebzehnten Jahrhundert in folgenden Zeilen zum Ausdruck brachte:
Steinmauern sind es nicht, die ein Gefängnis bilden,
Noch bilden Eisenstäbe einen Käfig.
Nach Schluß einer besonders interessanten Mittwochabend-Versammlung, die in der Kapelle des Gefängnisses abgehalten wurde und in der verschiedene aufrichtige Dankesbezeugungen für christlich-wissenschaftliche Heilungen abgegeben wurden, sagte einer von den Gefangenen zu mir, er habe die wahre Natur der Freiheit erst erkannt, als er ins Gefängnis gekommen sei. Wiewohl er in anständigen und gebildeten Kreisen aufgewachsen war, ein College besucht und eine fachmäßige Ausbildung genossen hatte, so war ihm doch erst durch diese Erfahrung im Gefängnis einigermaßen die herrliche Freiheit der Kinder Gottes offenbart worden, von der der Apostel sagt, sie sei das Sehnen „aller Kreatur.“ Nachdem ich über diese Bemerkung, die zunächst sehr überraschend klang, etwas nachgedacht hatte, wurde mir klar, daß sie vollkommen mit der Auffassung vom wahren Menschen übereinstimmt, wie wir diese durch das Studium der Christlichen Wissenschaft erlangen; denn der Mensch als Bild des unendlichen Gemüts ist, wie Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 475) sagt, „die zusammengesetzte Idee Gottes und schließt alle richtigen Ideen in sich,“ weshalb er keine Beschränkungen der Zeit noch des Raumes kennt — keine derartigen Annahmen, die jeder Begrenzung, d.h. jeder Gefangenschaft zugrunde liegen.
Dieser Mann hatte durch das Studium der Bibel und des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs gelernt, daß im Grunde genommen nur der im Gefängnis ist, der da glaubt, die Materie halte ihn gefangen und er sei infolgedessen in all seinen Fähigkeiten und Handlungen durch die zahllosen Dinge gehemmt, die sich die Sterblichen seit Jahrhunderten selbst aufgerichtet haben, die von jeder neuen Generation vermehrt und vergrößert worden sind, und aus denen es kein Entrinnen gibt, außer durch das ungewisse sogenannte Tor des Todes. Diese Knechtschaft des Fleisches hat man als unvermeidlichen wesentlichen Bestandteil der göttlichen Vorsehung hingenommen. Das Zeugnis der physischen Sinne, das auf die Phänomene des materiellen Menschen und seine Umgebung beschränkt ist, erkennt willig die Maßstäbe und Grenzen der sterblichen Annahme an, denn Beschränkung ist der sterblichen Auffassung zufolge geradezu das Wesen des Daseins. Nach dieser Auffassung gibt es ein sterbliches Gemüt, das in einem sterblichen Körper wohnt und sich stets in einem Kreis bewegt, den es sich selbst vorschreibt. Man könnte sich kaum ein vollständigeres Bild der Gefangenschaft, Begrenzung oder Beschränkung ausmalen, als das Leben des Adam-Menschen darstellt; und doch ist sie zweifellos das allgemeine Los des Menschengeschlechts.
In das Bewußtsein des Menschen, der sich im Gefängnis befindet, d.h. der an ein Leben in der Materie glaubt, fällt zunächst ein Schimmer und dann ein Strahl des Lichtes — eines Lichtes, desgleichen nie vorher auf Land oder Meer gefallen ist. Es offenbart ihm die Tatsachen des geistigen Seins, die Wahrheit über Gott und den Menschen. Wie ganz anders erscheint ihm doch infolge dieser Offenbarung das gesamte Lebensproblem! An Stelle von Knechtschaft unter der sterblichen Annahme, die immer ein strenger Fronvogt ist, tritt mentale und geistige Freiheit, die die unzertrennliche und unveräußerliche Begleiterscheinung der wahren Selbstheit des Menschen ist und die einem zur Erfahrung wird, sobald man sie versteht. Wie gänzlich verschwindet dann jedes Empfinden von Gefangenschaft, und wie schnell zerbröckeln die engen Mauern des mentalen Gefängnisses! Die Perspektive des Lebens erweitert sich jetzt immer mehr, bis sie sich in der Betrachtung der unendlichen Ideen des göttlichen Gemüts, der ewigen Herrlichkeit des himmlischen Daseins verliert. Wie wahr sind doch folgende Worte des Psalmisten, wenn wir sie im Sinne der Christlichen Wissenschaft verstehen: „Der Herr löst die Gefangenen. Der Herr macht die Blinden sehend.“
Mrs. Eddy sagt auf Seite 503 von Wissenschaft und Gesundheit: „Das unsterbliche und göttliche Gemüt stellt die Idee Gottes dar: erstens, in Licht; zweitens, in Wiederspiegelung; drittens, in geistigen und unsterblichen Formen von Schönheit und Güte.“ Wenn man das vorhererwähnte Gedicht im Lichte der Erkenntnis betrachtet, wird ersichtlich, daß der Verfasser, wenn auch vielleicht unbewußt, eine treffliche metaphysische Tatsache darlegte, die er dann in derselben Strophe wie folgt weiter ausführt:
Wenn meine Liebe voller Freiheit ist,
Und wenn ich frei in meiner Seele bin,
Dann weiß ich, Engel nur, die droben schweben,
Die können gleiche Freiheit froh genießen.
Wenn das Dasein in diesem Lichte erkannt wird, hat es keine Beschränkungen und Grenzen mehr, denn seine wahre Wesenheit ist Freiheit. Wer seine wirkliche Freiheit kennt (versteht), wird sie im Verhältnis zu seiner Erkenntnis demonstrieren. Er wird vielleicht, wie Petrus, zu seiner Überraschung einen Engel des Lichtes in sein Gefängnis treten sehen, der ihn auf Umwegen und an schlafenden Wachen vorbei durch Tore führt, die sich auf Befehl der göttlichen Liebe weit auftun, bis er draußen in der Atmosphäre vollkommener Freiheit angelangt ist. Auch er wird dann erkennen, daß ihm der Herr diesen Engel zur Befreiung gesandt hat. Und möglicherweise wird er dann von einer Rhoda, die den Befreiten erkennt und zu den Nachbarn eilt, um ihnen die frohe Kunde zu bringen, mit demselben ungläubigen Ruf empfangen werden: „Du bist unsinnig. ... Es ist sein Engel;“ denn das sterbliche Gemüt hält zäh an seinem falschen Begriff vom Dasein fest und weicht der geistigen Auffassung nur ungern.
Ehe die Versammlung, die ich am Anfang dieses Aufsatzes erwähnte, zuende war, teilte der Leiter derselben, ein Mitglied des staatlichen Ausschusses für vorläufige Haftentlassung, den Zuhörern mit, hundertundfünfzig Gefangene seien auf ihr Ehrenwort hin freigelassen worden, nachdem sie durch die Christliche Wissenschaft eine neue Auffassung von wahrer Freiheit bekommen hätten. Von diesen habe ein jeder einträgliche Beschäftigung gefunden, alle seien jetzt in angesehener Stellung, betrieben etwas Nützliches in der Welt und hätten sich wieder ihr Bürgerrecht erworben. Diese Männer, die dank der Lehren Mary Baker Eddys den Engel des Lichts geschaut hatten, können gewiß mit Tränen der Dankbarkeit in die inspirierten Worte Mrs. Eddys einstimmen (Miscellaneous Writings, S. 275): „Vater, wir danken Dir, daß Dein Licht und Deine Liebe die Erde erreichen und denen, die gefesselt sind, das Gefängnis öffnen, die Unschuldigen trösten und die Tore des Himmels weit auftun.“
Wer könnte leugnen, daß dieses Verständnis von der wahren Freiheit in der Tat die Frucht des Geistes und die Erfüllung der Mission ist, von der Jesaja vorraussagte, daß sie das Kommen des Christus begleiten würde: „Darum daß mich der Herr gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, daß ihnen geöffnet werde.“