Nachdem man durch die Christliche Wissenschaft ein klareres und genaueres Verständnis vom Leben erhalten hat, berührt es einen seltsam, wenn man andere von günstigen Gelegenheiten so reden hört als handele es sich um etwas, was zufällig kommt oder geht. Viele sehen eine gute Gelegenheit als etwas an, was sich dem Menschen nur selten bietet, als etwas was für ihn Erfolg bedeutet, wenn er bereit ist zuzugreifen, als etwas, was ihm andererseits Mißerfolg bringt, wenn er es verpaßt, so daß ihm dann nichts anderes übrigbleibt als den Rest seines Lebens in Verzweiflung hinzuschleppen. In solchen Fällen werden wir in der Regel finden, daß diese Unglücklichen ihre Zeit mit nutzloser Reue vergeuden und ihr Leben, aus dem jede Hoffnung geschwunden ist, als eine grausige Einöde betrachten. Diese trostlose Auffassung trübt nicht nur ihr eigenes Dasein, sondern sie wirft auch auf alle Umstehenden einen Schatten.
Die fatalistische Auffassung, als sei eine günstige Gelegenheit etwas Zufälliges oder ein Ereignis, das man erkennen und ausnutzen muß, oder an dem man aus Unwissenheit vorübergehen und dessen man infolgedessen verlustig gehen kann, bedeutet die gleiche Umkehrung des wahren Sinnes des menschlichen Lebens wie alle anderen sterblichen Annahmen. Selbst die Definition des Wortes Gelegenheit im Lexikon als „eine Zeit oder ein Ort, die zur Ausführung eines Vorhabens günstig sind,“ unterstützt keinesfalls solch eine falsche Auffassung. In Wirklichkeit ist eine günstige Gelegenheit das, was eine richtige Lebensauffassung uns gegenwärtig darbietet und wovon wir Gebrauch machen sollen.
Eine sogenannte verpaßte Gelegenheit bedeutet nichts anderes, als daß wir es versäumt haben, die sich uns bietenden Vorteile auszunutzen. Die Entdeckung solcher Versäumnisse sollte uns zu ernsterem Streben anspornen, anstatt unseren Fortschritt durch Mutlosigkeit zu hemmen. Wohl mögen wir das Vergangene nicht mehr gut machen können; aber noch ist die Gegenwart unser, noch liegt die Zukunft vor uns, die allezeit die Belohnung für treues und geduldiges Wirken bereit hält. Wir sehen also, daß wir beständig gute Gelegenheiten haben. Mrs. Eddy schreibt (Miscellaneous Writings, S. 339): „Die Tatsache, daß das ‚Morgen‘ aus dem ‚Heute‘ erwächst und ihm um einen Tag voraus ist, kleidet die Zukunft in die Regenbogenfarben der Hoffnung.“
Tatsächlich ergreifen und vergrößern wir unsere günstigen Gelegenheiten, indem wir nach besten Kräften das ausnutzen, was wir bereits haben. Es ist durchaus falsch, wenn jemand glaubt, seinen Mißerfolg damit entschuldigen zu können, daß sich ihm keine Gelegenheit geboten hätte. Solch ein Argument ist nur eine der Täuschungen des menschlichen Bewußtseins. In Wirklichkeit ist gerade das Eintreten einer Schwierigkeit eine gute Gelegenheit. Das Erlangen eines vollkommenen Lebens ist es, was die Christliche Wissenschaft fordert und was sich ein jeder als Hauptziel setzen sollte. Jesus sagte: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Wenn auch die Hindernisse und Schwierigkeiten, die sich dem Erlangen eines solchen Lebens entgegenstellen, für den menschlichen Sinn fast zahllos sind, so sind sie doch keineswegs unüberwindlich, und es bietet sich stets eine Gelegenheit, dies zu beweisen.
Es gibt nichts, was uns der Verantwortung entheben könnte, unsere Schwierigkeiten zu überwinden. Das Argument der Unfähigkeit, das so schnell bei der Hand ist, ist keine Entschuldigung, sondern eher ein Grund, größere Anstrengungen zu machen, weil es zurückgewiesen werden muß und weil sich uns dadurch eine neue Gelegenheit bietet. In dem Gleichnis von den anvertrauten Zentnern verurteilte sich der Mann mit dem einen Zentner selbst. Seine Gründe, warum er seinen Zentner nicht vermehrt hatte, waren die Härte und die hohen Anforderungen seines Herrn. Und doch hätten ihn gerade diese Gründe dazu veranlassen sollen, das abzuliefern, was er schuldete. Wenn wir unsere Pflicht vernachlässigen, weil die Forderungen des Prinzips nach menschlichen Begriffen schwierig oder unangenehm zu sein scheinen, so bringen wir uns dadurch nur in noch schwierigere Lebenslagen, bis uns dann bittere Erfahrungen zum Gehorsam zwingen. Solche Erfahrungen können somit unsere größte Gelegenheit ausmachen. In Wissenschaft und Gesundheit lesen wir: „Ungenützte Gelegenheiten werden uns zum Vorwurf werden, wenn wir die Segnungen einer Erfahrung, die wir nicht selbst gemacht haben, für uns in Anspruch nehmen wollen“ (S. 238). Dadurch, daß die Knechte im Gleichnis ihre Gelegenheiten ausnutzten und ihre Zentner vermehrten, erwiesen sie sich ihrer Belohnung wert.
Aber noch etwas anderes als die Förderung unserer eigenen Interessen müssen wir in Betracht ziehen, nämlich das Wohlergehen anderer. Wenn wir den Wunsch hegen, unseren Mitmenschen zu helfen, dann brauchen wir uns nicht erst lange nach Gelegenheiten umzusehen oder auf sie zu warten, denn die Gelegenheit, anderen zu helfen, findet sich beständig. Sie wartet nur auf unsere Bereitwilligkeit, sie wahrzunehmen. Wenn wir nur allezeit bereit sind, andere vor einer nahenden Gefahr oder vor einem bösen Einfluß zu warnen, ein tröstendes oder ermutigendes Wort zu sprechen, wenn wir andere mit widrigen Umständen kämpfen sehen, die schweren Bürden leicht zu machen, die Bedrängten zu befreien — dann werden wir wenig Veranlassung zum Klagen wegen Mangel an Gelegenheiten und wenig Zeit zum Verurteilen finden.
Liebe ist der große Erzeuger aller guten Gelegenheiten — die Liebe, die durch das Sichversenken in die göttliche Liebe erzeugt worden ist; die Liebe, die danach trachtet, zu helfen und zu heilen, zu erlösen und die Menschheit zu segnen; die Liebe, die dem rieselnden Bächlein gleicht, das zu den dürstenden Würzelchen dringt, um sie zu erfrischen und dadurch Laub und Knospen neu zu beleben, oder die wie ein gestauter Strom ist, der infolge der Hindernisse nur stärker anschwillt, bis die angesammelten Kräfte zu frucht- und segenbringenden Zwecken ausgenützt werden können. Selbstlose Liebe zeigt uns Gelegenheiten. Sie weist uns allezeit himmelwärts; sie erhebt das menschliche Bewußtsein über den schmutzigen Boden der Selbstsucht; sie „herberget gerne.“
Wenn wir jedes Ereignis in unserem Leben als eine Gelegenheit ansehen, Gutes zu erlangen oder zu wirken, wird es uns gelingen, widrige Umstände in Vorteile, Enttäuschungen unserer menschlichen Hoffnungen in Vertrauen auf göttliche Hilfe, Furcht vor menschlicher Schwäche in geistige Stärke umzuwandeln. Traurigkeit und Kummer werden durch Frohsinn und Freude, Haß und Feindschaft durch Vergebung und Nächstenliebe, Leiden und Disharmonie durch Heilung und Frieden verdrängt werden. So wird die Prophezeiung des Jesaja in Erfüllung gehen, wenn er von dem Messias sagt, er sei gesandt worden „zu trösten alle Traurigen, ... ihnen Schmuck für Asche und Freudenöl für Traurigkeit und schöne Kleider für einen betrübten Geist“ zu geben.