„Was seid ihr hinausgegangen zu sehen?“ fragte Jesus. „Wolltet ihr einen Propheten sehen? Ja, ich sage euch, der auch mehr ist denn ein Prophet. Denn dieser ist's, von dem geschrieben steht: ‚Siehe, ich sende meinen Engel vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll.‘ “ Im weiteren erklärte er, kein größerer Prophet sei je erstanden als Johannes; und dennoch sei der Kleinste im Himmelreich größer denn er. Propheten, die die Juden aus ihren heiligen Schriften kannten, waren göttliche Boten gewesen, die die Menschen zur Rechtschaffenheit ermahnten und die Sünde oft scharf rügten. Die Priester hatten sich mit dem Zeremonialgesetz abgegeben, hatten streng auf der Entrichtung des Zehnten und der Darbringung von Opfern und Gaben bestanden. Die Propheten hatten den Ruf an die Menschen ergehen lassen, sich einer inneren Rechtschaffenheit zu befleißigen und diese durch ein wahrhaft sittliches Leben und durch Barmherzigkeit kundzutun. Während die Hüter der Überlieferungen von den Menschen strengen Gehorsam gegen diese Überlieferungen verlangten, bestanden die prophetischen Boten auf Bekehrung. Johannes, der zu den Propheten gehört, rief daher mit lauter Stimme, die Menschen sollten sich bekehren und von ihren Sünden reinigen. Von ihm sagt Paulus: „Johannes hat getauft mit der Taufe der Buße und sagte dem Volk, daß sie sollten glauben an den, der nach ihm kommen sollte, das ist an Jesum, daß der Christus sei.“
Jesus begann seine Wirksamkeit damit, daß er die Menschen zur Buße ermahnte. Seine Worte hatten eine neue Kraft, und seine Erklärung, daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, waren von den Beweisen der Gegenwart und Macht dieses Reiches begleitet. Die Pharisäer widersetzten sich naturgemäß der inneren Umwandlung, die diese Lehre herbeiführte. Sie waren die Verfechter der satzungsmäßigen Religion ihres Volkes. Jesus erkannte ihren Eifer an, tadelte sie aber darum, daß sie „das Schwerste im Gesetz“ dahintenließen, nämlich „das Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben.“ Als ein göttlicher Bote war er derjenige, von dem die Propheten gezeugt hatten, und als solcher wurde er erkannt zu einer Zeit, als seine Jünger sich versucht fühlten, ihn zu verlassen. „Wollt ihr auch weggehen?“ sagte er zu-den Zwölfen. Simon Petrus antwortete: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt, daß du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Die Botschaft Christi Jesu war endgültig; sie brachte einen besonderen Zeitabschnitt zum Abschluß und war für die Menschen wie das Licht eines neuerstandenen Tages. Die Propheten verkündeten oft Vernichtung; der Meister verkündete ein Evangelium des Frohsinns und der Freude für alle Menschen. Er befreite die Gemüter von dem Glauben an einen weitentfernten, freudlosen und zornigen Gott und bezeugte, daß die Gegenwart Gottes Freude, Friede, Heilung, Erlösung, Güte, ewiges Leben bedeutet. Die Lehrer vergangener Tage, die er als die Alten bezeichnete, hatten die Menschen gelehrt, zu hassen, Rache zu üben, sich über andere zu erheben und sich fern von ihnen zu halten. Jesus war gekommen, das geistige Hoffen der Propheten zu erfüllen. Mit ruhiger Würde und mit Nachdruck verwarf er das starre Festhalten seitens der damaligen Lehrer am Buchstaben und legte seine Regeln der Nächstenliebe mit den einleitenden Worten dar: „Ich aber sage euch.“
Er verlangte Gottgleichheit. Wenn wir Gott um Vergebung unserer Sünden bitten, müssen wir erst anderen ihre Vergehen gegen uns vergeben und eine moralische Gleichheit mit Gott kundtun. Die Allumfassenheit des Himmelreichs wird dann offenbar, wenn die Menschen eingesehen haben, daß das Himmelreich durch die Erfüllung des Willens Gottes verwirklicht wird. Nicht ein anmaßendes Benehmen, sondern Selbstaufopferung ist das Merkmal derer, die gehorsam sind. Der Meister sagte zu seinen Nachfolgern, sie dürften nicht nach dem Beispiel der sogenannten Herrscher und Großen in der Welt über Untergebene den großen Herrn spielen. „Welcher will groß werden unter euch, der soll euer Diener sein,“ erklärte er. In seiner letzten Unterredung mit seinen Jüngern faßte er diese Pflichten kurz zusammen und gab den Jüngern ein Zeichen, woran sie einander erkennen und von anderen erkannt werden könnten, nämlich an dem Gehorsam gegen ein Gebot, das er ihnen gab. Seine Worte lauteten: „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe, auf das auch ihr einander liebhabt. Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.“
In allen Teilen der Welt suchen ernstgesinnte Menschen nach einem Plan oder einem sicheren Verfahren, wie der Friede hergestellt werden kann. Die einen meinen, diejenigen, die die gleiche Sprache sprechen, sollten beisammen leben und ein Volk mit genau bestimmten Grenzen bilden; andere möchten Gruppen von Menschen, welche gleiche politische Anschauungen haben, miteinander verbinden. Aber die Schwierigkeit ist die, daß sich Menschen von verschiedenen Sprachen vermischen, und die verschiedenen Anschauungen gehen über die ganze Welt, wie Wandelbilder. Eine mentale Übereinstimmung in bezug auf Lebensführung, Gesetz und Religion muß bestehen, ebenso wie in einer Schule alle Klassen ein einfaches Rechenexempel deshalb lösen können, weil sie die Regel verstehen. Diesen Vergleich wendet Mrs. Eddy in folgender Stelle in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ an (S. 128): „In der Mathematik muß die Addition zweier Summen stets dasselbe Resultat ergeben. Ebenso ist es in der Logik. Wenn der Ober- und der Untersatz eines Vernunftschlusses beide korrekt sind, dann kann die Schlußfolgerung, wenn richtig gezogen, nicht falsch sein. So gibt es in der Christlichen Wissenschaft keine Disharmonien, noch Widersprüche, da ihre Logik ebenso harmonisch ist, wie die Beweisführung eines exakt aufgestellten Vernunftschlusses oder einer richtig zusammengerechneten Summe in der Arithmetik. Wahrheit ist immer wahr und kann weder in der Prämisse noch in der Schlußfolgerung Irrtum dulden.“
Was ist es nun, was die Nationen zu lernen haben? Ist es nicht das, was man als praktisches Christentum bezeichnet hat? Und wie könnte die Frage, was praktisches Christentum sei, besser beantwortet werden als durch das Beweisen der Liebe, mit der der Meister seine Jünger liebte, durch die gleichen Werke der Wohltat, die er seinen Jüngern auftrug, durch das Heilen der Kranken, das Wiederaufrichten der Gefallenen, das Reinigen der Aussätzigen, das Befreien der Menschen von Sünde, Furcht, Leiden und Tod!
Außer Gott, der die Liebe ist, gibt es keine Liebe. Die Liebe, von der der Meister sagte, sie sei das Zeichen der Jüngerschaft, ist das Ergebnis der vorausgehenden Liebe zu Gott, d.h. des durch das Christentum erleuchteten Gehorsams gegen das erste Gebot. In diesem Lichte erkennen wir den wahren Gott, und wer Gott erkennt, liebt Ihn auch. In einer Predigt, die Mrs. Eddy im Jahre 1885 hielt (Miscellaneous Writings, SS. 173–175) heißt es: „Wer hat je in den Schulen gelernt, daß es nur ein Gemüt gibt und daß dieses Gemüt Gott ist, der alle unsere Krankheiten und Sünden heilt?“ Und in einem späteren Abschnitt sagt sie: „Das Maß des Lebens muß mit jeder geistigen Berührung zunehmen, ebenso wie der Sauerteig den Laib ausdehnt. Der Mensch soll das Lebensfest nicht im alten Sauerteig der Schriftgelehrten und Pharisäer feiern, auch nicht, im Sauerteig der Bosheit und Schalkheit, sondern in dem Süßteig der Lauterkeit und der Wahrheit.'“
Offenbar hat es die Welt vor allen Dingen nötig, daß der alte Sauerteig des Stolzes, der Grausamkeit, des gesetzwidrigen Strebens, des kleinlichen Grolls und der boshaften Selbstüberhebung ausgefegt werde. Die Menschen müssen mit geistigen Visionen, reinen Idealen, wahrer Erkenntnis gespeist werden, ja mit dem Brot des Lebens, von dem Jesus sagte: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Mose hat euch nicht das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das rechte Brot vom Himmel. Denn dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben.“ Das bedeutet im wesentlichen, daß die Menschen einen falschen Begriff vom Leben ablegen können, nämlich den materiellen Begriff, der sie zu Widersachern und Mördern macht, und daß sie lernen können, so zu leben, wie es Christus Jesus und seine Apostel durch ihre Werke veranschaulicht haben.
Man stelle sich einen Zustand vor, wo die Machthaber gerecht sind, Liebe üben und demütig sind vor ihrem Gott und so das Ideal verwirklichen, welches Micha darlegt. Wenn Vorurteil und Widersetzlichkeit dem Wohlwollen und dem geselligen Verkehr gewichen sind, wenn das Wohlergehen anderer Genugtuung und Freude bereitet und wenn daher aller Neid, aller Haß, alle Bosheit, alle üble Nachrede durch die Liebe zu Gott vernichtet worden ist, dann werden Name und Flagge und Sprache eines Volkes weniger wichtig erscheinen als die Frage, wie viel dieses Volk zum Wohl der ganzen Welt beigetragen hat. Dann wird das Gefühl des Getrenntseins und des Wettbewerbs verschwinden, samt der Furcht, die jede Art der Selbstsucht und alle materiellen Anschauungen begleiten, und Liebe wird die Menschen bereichern und sie in wahrer Freude und wahrem Frieden vereinigen, weil Gott von allen erkannt wird und weil alle Ihm vertrauen. Dadurch, daß Mrs. Eddy diese Fülle des Christentums an den Tag brachte, hat sie uns ein Beispiel gegeben, über das die ganze Welt nachdenken sollte. In „Miscellaneous Writings“ (S. 303) sagt sie: „Wir sind im vollsten Sinn des Wortes Brüder. Daher sollte die Frage nicht entstehen, wer ,der Größte' sei. Wir wollen dienen, statt zu herrschen, an die Tür des Menschenherzens klopfen, statt an ihr zu rütteln, und einem jeden die Rechte zugestehen, die wir für uns selber beanspruchen. Sollte ich mich je in der Arbeit für meine Schüler aufreiben, so wird es in dem Bestreben sein, ihnen zu helfen, die zehn Gebote zu halten und den Geist der Seligpreisungen Christi in sich aufzunehmen.“
