Als Jesus sagte: „Richtet nicht nach dem Ansehen, sondern richtet ein rechtes Gericht,“ verlegte er die Tätigkeit der Kritik dahin, wo sie hingehört, nämlich in das Reich der geistigen Erkenntnis oder der göttlichen Weisheit. Die Fähigkeit, sich ein unparteiisches Urteil zu bilden oder eine Sache der Wahrheit gemäß kritisch zu zerlegen, entspringt der absoluten Erkenntnis Gottes als des Prinzips und bildet einen wesentlichen Teil der mentalen Ausrüstung eines Kindes Gottes. Geistige Erkenntnis durchdringt das Dunkel materieller Annahmen und sieht die Klarheit der Schöpfung, den Menschen und das Weltall, als das unvergängliche Ebenbild Gottes. Diese Art des Richtens ist das Gegenteil von Verdammen oder Tadel, denn sie ist von der Liebe geboren und kann daher niemandem schaden. Wenn wir jedoch dem Wort kritisieren ausschließlich die Bedeutung von verdammen beilegen, wie so oft geschieht, so beweisen wir dadurch nicht nur unsere Unwissenheit von dessen wahren Bedeutung, sondern wir berauben uns auch der vielen Wohltaten, die wahre Kritik dem bietet, der ein offenes Gemüt und ein empfängliches Herz hat.
Das Wort kritisieren stammt von dem griechischen Wort krino her, welches richten, urteilen, wählen oder trennen bedeutet. Im griechischen Neuen Testament wird dieses Wort krino oft in Verbindung mit zwei Verhältniswörtern gebraucht: ana auf, und kata ab. Wenn Paulus sagt: „Der natürliche Mensch“ könne „nichts vom Geist Gottes“ verstehen, denn es müsse „geistlich gerichtet“ sein, so ist hier das Wort für richten anakrino, bedeutet also eine mentale Erhebung, eine inspirierte Vision, ein Urteil, das sich über den Augenschein der physischen Sinne erhebt. Andererseits kommt das Wort katakrino im achten Kapitel des Johannes-Evangeliums vor, wo wir lesen, daß Jesus zu dem Weib sagte: „So verdamme ich dich auch nicht,“ sehe ich auch nicht mental auf dich herab.
Für den Schüler der Christlichen Wissenschaft sind diese Unterschiede sehr bedeutungsvoll; denn da die Christliche Wissenschaft die Wissenschaft der absoluten Wahrheit über Gott, den Menschen und das Weltall ist, so lehrt sie ihre Schüler die Notwendigkeit der Genauigkeit im Denken, Reden und Handeln. Ferner lehrt sie sie, wie wichtig es ist, die positive, konstruktive Bedeutung von Worten sowohl wie von Gedanken hervorzuheben und so auf der Hut zu sein, damit sie nicht die negative, zersetzende Bedeutung annehmen, die das sterbliche Gemüt stets suggeriert.
Webster definiert zwar einen Kritiker als einen, der „scharf, streng oder aus Tadelsucht urteilt,“ stellt aber diese Definition weit unter jene andere, in welcher ein Kritiker als ein Mensch bezeichnet wird, „der eine auf Vernunft begründete Ansicht über eine Sache hat, wie z. B. ein Kunstwerk oder eine Handlungsweise, und der den Wert, die Wahrheit, die Gerechtigkeit dieser Sache beurteilen, ihre Schönheit oder Anordnung würdigen und ihre Bedeutung erklären kann.“ Wahre Kritik befaßt sich also mit Grundgesetzen, mit feststehenden Regeln und unveränderlichen Prinzipien, nach welchen die Vorzüge oder Fehler einer Arbeit beurteilt werden können. Eine solche Kritik ist daher durchaus unpersönlich und unparteiisch. Indem sie stets Vollkommenheit im Auge behält, ist sie imstande, in liebevoller und wirksamer Weise zu erklären, wie ein Ergebnis erzielt werden kann, das diesem Maßstab entspricht. Falsche Kritik hingegen ist gleichbedeutend mit Tadel, Vorwurf, Verweis; sie ist persönlich, sie beruht auf Unwissenheit und hat eine böse Absicht, denn sie ist das Erzeugnis des sterblichen Gemüts, welches nur „nach dem Fleisch“ richten kann. Sie hat keinen Maßstab außer dem des persönlichen Sinnes und verlangt daher nur eine Änderung: Übereinstimmung mit dem, was es für das Richtige hält.
In der Bibel ist durchweg von Gott als dem Richter des Weltalls die Rede, der da vergilt „einem jeglichen, wie er's verdient.“ Der Psalmist erklärt: „Gott ist Richter, der diesen erniedrigt und jenen erhöht.“ Diese Fähigkeit des geistigen Erkennens oder rechten Richtens gehört dem göttlichen Gemüt an und ist eine wiedergespiegelte Eigenschaft des wahren Menschen. Niemand hat jedoch das Recht, in irgendeinem Zweig der Tätigkeit in willkürlicher Weise über die Verfahrungsart oder das Tun und Lassen eines anderen zu bestimmen. Als Jesus aufgefordert wurde, diese geistig unrichtige Haltung anzunehmen, antwortete er: „Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbschichter über euch gesetzt?“ Der Meister war unermüdlich tätig in seinem Liebesdienst unter denen, die sich in ihrer Not an ihn wandten, weigerte sich aber entschieden, das Problem eines anderen auszuarbeiten, auch ließ er es nicht zu, daß selbst seine vertrautesten Gefährten sich wegen ihrer Unterstützung und Inspiration auf seine Persönlichkeit verließen. Stets lehrte er sie, daß diese Segnungen von seinem Vater und ihrem Vater kommen müßten. So fest war sein Vertrauen auf Gottes Fähigkeit, ihm alle seine Probleme lösen zu helfen, daß er sagen konnte: „Ich kann nichts von mir selber tun. Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist recht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern des Vaters Willen, der mich gesandt hat.“
Jesus besaß ein gründliches Verständnis vom geistigen Gesetz und dessen ununterbrochenen Wirksamkeit. Deshalb trennte er in seinem Denken jedes Empfinden der Disharmonie von dem Menschen, indem er die Vorstellung als einen unpersönlichen Irrtum erkannte, wodurch er die Wahrheit über Gottes Kinder dartat — ihre Harmonie, Freiheit und Unsterblichkeit. So entfaltete also Jesus der Menschheit die heilende Tätigkeit und konstruktive Kraft der wahren Kritik, die das Böse als eine Lüge bloßstellt und durch Demonstration die ewige Vollkommenheit des wahren Seins offenbart.
Folgende Fragen bilden den Prüfstein, den man auf alle Kritik anwenden kann: Ist sie aufbauend oder zerstörend? Ist sie persönlich oder unpersönlich? Ist sie, wie Paulus sagt, „nützlich zur Besserung“ und „holdselig ... zu hören“? Wenn wir einen anderen zurechtweisen, beruht dann unsere Kritik stets auf einem richtigen Verständnis von der Sache, um die es sich handelt, und beurteilen wir seine Bestrebungen unparteiisch und ausschließlich in der Absicht, ihn zu veranlassen, sich nach den grundlegenden Gesetzen zu richten, die allein seine Handlungen regieren? Wie verhalten wir uns, wenn uns ein anderer zurechtweist? Grollen wir ihm dafür, daß er unseren Frieden stört, oder heißen wir einen solchen Vorfall willkommen, weil wir ihn als das Erscheinen eines Lichtes erkennen, als eine Aufforderung, einen höheren Begriff von der Wahrheit zu erlangen?
Wir brauchen uns nie vor Kritik zu fürchten, denn wenn es unser ernster Wunsch ist, daß uns das göttliche Gemüt regiere, dann können wir sie entweder als negativ oder als positiv klassifizieren. Kommt sie in der Form von Tadel, lieblosem Richten oder Vorwurf unter die Rubrik der falschen Kritik, so können wir ihre unfreundliche Absicht mit dem Gegenmittel der Liebe neutralisieren — können ihre Selbstvernichtung dadurch bewirken, daß wir sie in wissenschaftlicher Weise unpersönlich machen. Kommt sie aber als aufbauende, sachverständige Zergliederung einer Sache unter die Rubrik der wahren Kritik, so tun wir wohl daran, auf diese Gelegenheit zum Fortschritt zu achten. In der Heiligen Schrift lesen wir: „Strafe den Weisen, der wird dich lieben.“
Zur wahren Kritik gehört auch Liebe zum Schönen und Sinn fürs Schöne. Wahre Kritik ist harmonisch und vermag daher Unvollkommenheit, Täuschung und Disharmonie zu entdecken. Sie fördert Geduld, regt zum unabhängigen Denken an und unterdrückt Selbstzufriedenheit. Sie fordert rege Arbeit, Selbstaufopferung und Treue gegen ein hohes Ideal. Sie ist so weit von Schmeichelei entfernt wie das Licht von der Finsternis, denn sie befaßt sich mit dem wahren Wesen der Dinge und nicht mit ihrem scheinbaren Wesen. Die Christliche Wissenschaft lehrt uns den Wert wahrer Kritik und verlangt von uns, daß wir der Welt das Ergebnis einer Erfahrung mitteilen, die durch ihren beständigen Gebrauch gemeißelt und gereinigt worden ist.
Auf Seite 3 von „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany“ nennt Mrs. Eddy die Christliche Wissenschaft „die höhere Kritik, die höhere Hoffnung.“ Diese „höhere Kritik,“ wie sie in dem Leben vieler Tausenden ihrer Anhänger Ausdruck findet, übt in unseren Tagen einen konstruktiven Einfluß auf die Welt aus, bringt falsche Zustände an die Oberfläche, wo sie in einer gewaltigen moralischen Chemikalisation vernichtet werden, und legt der Menschheit durch das Mittel unserer autorisierten Schriften beharrlich und mutig den Gesichtspunkt des Prinzips dar, nach welchem alle Beweggründe und Handlungen der Völker sowohl wie der Einzelwesen zuletzt beurteilt werden müssen.
Die unwiderstehliche Tätigkeit dieses geistigen Bewußtseins, wie sie im menschlichen Denken stattfindet, vereinigt die Bürger der Welt zu einem herrlichen Reich, das auf allgemeine Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit gegründet ist. Es ist das verheißene Himmelreich auf Erden. Welch hohe individuelle Pflicht haben wir somit, als Christliche Wissenschafter in unserem Denken die Fähigkeit des wahren Kritisierens zu pflegen, die Fähigkeit, vermöge unseres richtigen Urteils das Edelste, Reinste und Beste zu wählen, damit wir der Welt durch unseren Lebenswandel die Demonstration einer höheren Erkenntnis Gottes und Seiner Idee, des Menschen und des Weltalls, bieten können!
Nur wenn wahre Kritik unser Denken beherrscht, können wir täglich einen klareren Ausblick auf die geistige, in ihrer Einheit, ihrem Zweck und ihrem Plan vollkommene Schöpfung Gottes erlangen, nur dann können wir das Bewußtsein der Allheit Gottes, wie es in der Brüderschaft der Menschen zum Ausdruck kommt, herbeiführen helfen. Auf Seite 208 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ sagt Mrs. Eddy: „Laßt uns von dem Wirklichen und Ewigen lernen und uns auf das Reich des Geistes, auf das Reich des Himmels vorbereiten — auf das Reich und die Herrschaft der allumfassenden Harmonie, die nicht verloren gehen, noch auf immer unsichtbar bleiben kann.“
