„Geschrieben steht im Grund, auf Blüte, Blatt, ganz gleich;
Liebe hat eine Rasse, eine Macht, ein Reich.“
So schreibt die Entdeckerin und Begründerin der Christlichen Wissenschaft, Mary Baker Eddy (Poems, S. 22). Aber siehe da die Bemühungen des menschlichen Gemüts diesen wundervollen Ausspruch in all seinen Schlüssen umzukehren. „Seht euch um,“ sagt der spottende Materialist. „Gibt es im ganzen Bereich der physischen Sinne irgend etwas, das zu einer solchen Auffassung berechtigte? Die Natur deutet nicht auf das Bestehen einer Macht, sondern vieler Mächte hin, und es ist offenbar, daß sich die Menschheit dem Idealismus der einen Rasse und des einen Reiches nur langsam nähert, wie die endlosen Umwälzungen auf allen Gebieten und des heftige Aneinanderprallen verschiedener Glaubens- und Meinungsrichtungen beweisen.“ „Zudem,“ so mag der Spötter fortfahren, „denke man bloß an die Augenscheinlichkeit vieler Gemüter unter den Arbeitern der Christlichen Wissenschaft, die angeblich dem einen Gemüt folgen und dienen!“
Es läßt sich nicht leugnen, daß, wenn die den materiellen Sinnen und von denselben vorgespiegelten Bilder die tatsächliche Wahrheit des Seins darstellen, es einen all-liebenden, unendlich guten Gott nicht geben kann. Ein Mann, der an einer äußerst schmerzhaften Krankheit litt, bat einmal einen Christlichen Wissenschafter um einen hilfreichen Gedanken, den er festhalten könnte. „Überlegen Sie sich folgendes,“ sagte der Wissenschafter, „wenn es wahr ist, daß Sie Schmerzen haben, dann gibt es keinen Gott!“ „Es ist aber unbestreitbar, daß ich Schmerzen habe!“ entgegnete der andere. „Vergessen Sie nicht,“ erwiderte der Wissenschafter, „daß, wenn dies sich so verhält, es einen all-liebenden Gott, der das allgegenwärtige Gute ist, nicht geben kann.“ „Ich bin aber sicher, daß es einen guten Gott gibt,“ unterbrach ihn der andere. „Dann,“ so bestand sein Freund logischerweise, „ist keine Wahrheit in jener Schmerzempfindung.“
Stundenlang währte der Kampf. Die materiellen Sinne bestanden auf der Wahrheit und Wirklichkeit ihrer Argumente, bis endlich die dämmernde Überzeugung der Allgegenwart des Guten ihnen Einhalt gebot. Es hieß: „Erwählet euch heute, wem ihr dienen wollt,“ und als der Leidende endlich Gott und Seine Güte wählte und sich von dem Sinnenzeugnis abwandte, wie man sich von einem unglücklichen Bilde abwendet,— ihm weder Wahrheit noch Wirklichkeit beimessend,— schwand auch das Schmerz-Phantom dahin in das Reich vergessener Träume.
So lernt der Schüler der Christlichen Wissenschaft, sich nicht in die Flucht jagen zu lassen, wenn er dem rasch dahinziehenden, wechselvollen, friedlosen Drama der menschlichen Erfahrung gegenübersteht, sondern ruhig, gleichmütig und zuversichtlich auf seinem Posten auszuharren, und an Wahrheiten festzuhalten wie die obenangeführte: „Liebe hat ... eine Macht, ein Reich.“ Es ist ihm klar, daß, wenn dieser Ausspruch auf Wahrheit beruht, die Annahme von mehr als einem Gemüt der Grundlage entbehrt. Hat Liebe in Wahrheit nur ein Reich und eine Rasse, dann sind die Argumente, daß es Spaltungen, Gehässigkeiten und widerstreitende Meinungen gibt, unwahr. Der unerschrockene Saul von Tarsus weigerte sich auf Vergleiche einzugehen oder auf halbem Wege stehen zu bleiben, wenn er der Notwendigkeit gegenüberstand, zwischen dem Wahrzeichen eines guten Gottes und den offensichtlichen Schwachheiten des sterblichen Menschen zu wählen. Mit dem Mut und der Beständigkeit eines Luther nagelt er das mächtige Wort: „Gott sei wahrhaftig und alle Menschen Lünger“ an die Türen theologischen Widerstreits.
Hierauf mag mancher ernste Schüler der Christlichen Wissenschaft einwenden: „Ich habe mich gewiß ernstlich bemüht, mein Problem in dieser Weise zu lösen! Aber es gibt dem Anschein nach in meiner Zweig-Kirche so viele Gemüter und so viele auseinandergehende Meinungen, daß es manchmal scheint als wären wir Fremde, die unbekannte Sprachen sprechen, statt Brüder einer Rasse und eines Reiches.“
Es wäre in der Tat seltsam, wenn der Glaube an das Böse es nicht versuchte, die Kinder Israel unserer Zeit in ihren Bemühungen, dem gelobten Land des Geistes zuzustreben, zu hindern und zu entmutigen. War der Weg, den die Israeliten vor alters durch die Wüste gingen, frei von Mühsalen und Gefahren? Wurden sie nicht von geistiger Trägheit und Lässigkeit in den Sinnen dadurch bewahrt, daß sich ihnen eine Gelegenheit nach der anderen bot, die Nähe und Tatsächlichkeit des Guten zu beweisen? Sie hatten nicht allein mit äußeren Feinden zu kämpfen; es waren nicht nur die Pheresiter und Jebusiter, die besiegt werden mußten, denn innerhalb der Reihen der Israeliten erhoben sich jene, die sich gegen Moses und Aaron als Führer auflehnten; und die Schrift weist bedeutungsvoll darauf hin, wie sich die Erde auftat, und sie mit allem, was sie hatten, verschlang. Aber ob nun von innen oder von außen, der Feind war im Grunde derselbe, nämlich das eine Böse, der Widersacher, die Täuschung, die das Gute umzukehren und zu vernichten sucht. Die Entdeckerin und Begründerin der Christlichen Wissenschaft fragt jedoch ruhig: „Warum sollten wir über dem Nichts entsetzt sein?“ (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 563). Es entsteht sodann die Frage: Wie kann ich aber an der Wahrheit des Seins festhalten und gleichzeitig mit Brüdern wandeln, die, nach meiner Auffassung, sich vom Widersacher beeinflussen lassen? Es ist offenbar, daß Jesus in dieser Richtung keine Schwierigkeiten hatte, denn er sagt: „So dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei.“ Sollten wir nicht, im Lichte dieser Ermahnung, zu einem andersdenkenden Bruder sagen: „Freund ich kann mich Deiner Ansicht nicht anschließen,— aber wir sind Brüder. Ich gehöre zur Minorität, bin aber bereit, mit Dir zu gehen, im Bewußtsein, daß, Liebe eine Rasse, eine Macht, ein Reich‘ hat; und diese Liebe wird sicherlich unsere Meinungsverschiedenheiten auslöschen“?
O, die wunderbaren Möglichkeiten dieses Zwei-Meilen-Ganges mit dem andersdenkenden Bruder! Schon während der ersten Meile muß die Demut und christliche Liebe des einen anfangen, den Widerstand und die anscheinende Hartnäckigkeit des anderen zu erweichen; und erst während der zweiten Meile, wenn der unfreundliche Bruder an unserer Seite das Wunder erlebt, einen edlen Mann oder eine edle Frau zu seinem Begleiter zu haben, der so von der geistigen Tatsache der Vaterschaft der Liebe und der Brüderschaft der Menschen durchdrungen ist, daß er sich weigert, irgendein Gefühl des Hasses oder der Entzweiung aufkommen zu lassen oder als wirklich anzunehmen, und der von dieser Überzeugung den praktischen Nachweis dadurch erbringt, daß er sich weigert, sich von seinem Bruder zu trennen,— welch wunderbare Möglichkeiten eröffnen sich uns dann! Ein solches Verhalten kann nicht dahin ausgelegt werden, daß man das göttliche Prinzip außer acht läßt. Es bedeutet vielmehr, daß der Weg zu einer Demonstration des Prinzips praktisch vorbereitet wird; es heißt, daß man des Sieges der wahren Idee und der Entthronung der Suggestion so sicher ist, daß man dem Bösen tatsächlich keine Wirklichkeit beimißt und dieser Einsicht gemäß handelt.
Es ist mehr als wahrscheinlich, daß die Israeliten über die Notwendigkeit des Ganges um die Mauern von Jericho und über die Zahl und Art der Rundgänge, wie Josua sie forderte, nicht einer Meinung waren. Manche mögen es in der Tat nicht im Einklang mit ihren eigenen Anschauungen gefunden haben, wie eine Stadt erobert werden soll. Nichtsdestoweniger waren in diesem Falle offenbar alle Parteien willens, sich zusammenzufinden, zur selben Zeit zu gehen, und zur richtigen Zeit zu schreien. Und so brachten sie die endgültige Demonstration des Sieges zustande, die selbst den zweifelsüchtigsten wenn nicht gar rebellischen Israeliten überzeugen mußte, daß der Weg Josuas der Weg des Prinzips war.
Zweifellos ermüdeten manche unter den israelitischen Scharen beim Gehen und traten am ersten Tage aus den Reihen, indem sie sagten: „Ich kann mit diesen Leuten nicht Schritt halten. Sie ärgern mich; und überdies bin ich nicht sicher, daß Josua der rechte Führer ist.“ Aber die triumphierenden Heerscharen Israels ziehen ohne sie weiter, und wenn der mächtige Siegesruf schließlich erschallt, hören sie ihn nicht, denn sie sind weit, weit weg, in vergeblichen Erörterungen begriffen, wie man dem Prinzip nachfolgen soll, während sie in Wirklichkeit ihrer Eigenliebe und ihrem Eigenwillen dienen. Wären sie bereit gewesen, die zweite Meile, die dritte Meile und, wenn nötig, die vierte Meile mitzugehen, immer an der glorreichen Tatsache festhaltend, daß das Prinzip regiert, und daß „alle Ansprüche der Erde und der Hölle“ die Kinder Gottes nicht entzweien oder verwirren können, so hätten sie als die Mauern Jerichos fielen, in die Siegeshymne mit einstimmen können.
O, die Freudigkeit, die uns auf dem Wege der zweiten Meile zuteil wird. Wie die wilden Maßliebchen blühen sie auf, den ganzen Pfad entlang, die Gelegenheiten für Liebesdienste und Hilfsbereitschaft! Eine ruhige Zuversicht bemächtigt sich unser, daß wir wirklich mit dem Prinzip arbeiten, das Liebe ist, und daher richtig geführt, geschützt und geleitet sind,— vor dem Mesmerismus des Handelns und Bestimmens, das den Sinnen entspringt, bewahrt. Hier mag ein Mitreisender einwenden: „Ich habe versucht die zweite und dritte, ja die vierte Meile in meinem Kirchen- und Heim-Problem zu gehen, und noch ist die Nacht dunkel! Wie viele Meilen muß ich noch gehen?“ In dem Kapitel „Die Ehe“ in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 67), beantwortet Mrs. Eddy diese Frage mit nachdrücklichen Worten. Sie sagt: „Hoffend und arbeitend sollte man an dem Wrack festhalten, bis ein unwiderstehlicher Stoß den Untergang herbeiführt, oder bis der Sonnenschein die unruhige See erheitert.“ Sollten wir trotzdem anscheinend genötigt sein „das Wrack“ zu verlassen, so wollen wir es mit einem Segensspruch tun; denn was immer die Sinne uns erzählen, wie schrecklich das Bild des menschlichen Lebens auch zu sein scheint, es bleibt doch die herrliche Tatsache bestehen, daß es in Wahrheit nur einen Vater-Mutter, nur eine harmonische Familie gibt, denn „Liebe hat eine Rasse, eine Macht, ein Reich.“