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„Löset ihn auf und lasset ihn gehen“

Aus der Mai 1922-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


In ihrer Botschaft an Die Mutter-Kirche vom Jahre 1901 (S. 20) gebraucht Mrs. Eddy die folgenden Worte: „Wenn es nicht ausschließlich zu dem Zwecke geschieht, Gott zu dienen und die Menschheit zu segnen, so haben wir in der Christlichen Wissenschaft nicht das geringste sittliche Recht oder irgendwelche Autorität, andere in ihren Gedanken zu beeinflussen. Der Mensch wird im eigentlichen Sinne durch sich selbst regiert, und kein anderes Gemüt sollte ihn führen und leiten als die Wahrheit,— das göttliche Gemüt.“ Mrs. Eddy sagt ferner: „Der Christliche Wissenschafter ist allein mit seinem eigenen Wesen und mit der Wirklichkeit der Dinge.“ Und in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 58) lesen wir: „In der Seele ist sittliche Freiheit. Beenge niemals den Horizont eines edlen Ausblicks durch die selbstsüchtige Beschlagnahme der ganzen Zeit und Gedanken eines andern.“

Diejenigen, die das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft einigermaßen kennen, haben ihren ersten Eifer, unterschiedslos nach rechts und links „Behandlungen“ zu erteilen, zügeln gelernt. Sie wissen, daß es hierzu der Erlaubnis derer bedarf, denen sie wohlzutun wünschen. Wenn jedoch im Familienkreise auf die Ausübung einer liebevoll gemeinten Tyrannei verzichtet werden soll, so bedarf es hierzu eines erheblich höheren Maßes des Christus-Geistes. Das sterbliche Gemüt, jederzeit bereit, sich als Sittenrichter aufzuspielen, wenn es dadurch seinen Ansprüchen mehr Nachdruck zu verleihen mag, wendet ein, daß der Gegenstand seiner Sorge sonst der zu dessen Wohlergehen erforderlichen Fürsorge und Leitung beraubt sein würde. Es beschuldigt ihn der Unfähigkeit, die Führung des eigenen Lebens in die Hand zu nehmen, und große Sorge wird von Seiten desjenigen für ihn empfunden, der jenen Sinn persönlicher Verantwortung für ihn hegte, jetzt aber schüchtern versucht, ihn gehen zu lassen. Wenn der Christliche Wissenschafter in dieser Richtung weiterstrebt und der Lage gegenüber eine neue mentale Stellung einnimmt, dann beschuldigt ihn das sterbliche Gemüt möglicherweise der Kälte, der Gleichgültigkeit oder irgendeiner Phase der Selbstsucht, mag sein Wunsch, die wahre Liebe zum Ausdruck zu bringen, die Hand aus dem Spiele zu lassen, sich nicht länger einzumischen und sich aller diktatorischen Anordnungen zu enthalten, noch so aufrichtig sein. In manchen Fällen äußern sich solche Argumente in Worten, des öfteren aber durch einen stillen mentalen Zwang; aber der Kampf ist darum, daß er mental ausgefochten wird und infolgedessen äußerlich nicht wahrnehmbar ist, nicht minder heftig. Alle Achtung vor denen, die sich wissenschaftlich bemühen, sich gegenseitig das zur Ausarbeitung des Problems des Seins erforderliche Maß der Freiheit zu gestatten. Die Früchte solcher Arbeit werden nicht ausbleiben, und außerdem wird den sich also Bestrebenden eine Freiheit zuteil, die ihnen vordem unbekannt war.

Eine Reihe kennzeichnender Beispiele könnten hier angeführt werden, die von dem Bestreben des sterblichen Gemüts zeugen, alles zu beschränken und unterzuordnen, das, was in schöner, harmonischer gegenseitiger Beziehung stehen sollte, mißzugestalten und das Heiligtum der Familie mit einem gehässigen Elemente zu durchdringen. Der Irrtum mag der des persönlichen Empfindens, des Eigenwillens, der eines verstockten Sichverschließens gegenüber den Rechten eines anderen sein, oder gar der einer eifersüchtigen Fürsorge, die nicht wirklich Liebe ist, sondern auf der Selbsttäuschung beruht, daß man liebevoll handelt.

Die Rechte der Individualität werden nicht in ausreichendem Maße anerkannt und gewahrt, wenn, zum Beispiel, die persönlichen Briefe eines Familiengliedes unerlaubterweise von einem anderen jederzeit gewohnheitsmäßig geöffnet und gelesen werden, oder, wenn der Schreibtisch eines anderen, mit all seinen intimen Geschäftsangelegenheiten der willkürlichen Durchsicht Unberufener ausgesetzt ist. Freiheiten dieser Art verletzen nicht nur die geheiligten Privatrechte desjenigen, der die Briefe erhält, sondern sie bedeuten gleichzeitig einen gesetzwidrigen Eingriff in die Rechte der Schreiber, die ihm möglicherweise einen Teil ihrer eigenen Interessen anvertraut haben. Eine derartige unberufene Einmischung kann nicht damit entschuldigt werden, daß ein etwa getroffenes Übereinkommen zwischen zwei Personen, keine Geheimnisse voreinander zu haben, vorgeschützt wird. Eine solche Preisgabe der Individualität ist in hohem Grade gefährlich, denn ihre Folgen sind sozusagen dieselben, wie in Fällen, wo sich ein Mensch zu wiederholten Malen dem mutmaßlichen Einfluß des Hypnotismus unterzieht. Wenn zwei so gute Freunde sind, daß keiner vor dem anderen ein Heiligtum haben kann, das ihm ein gelegentliches Zurückziehen gestattet, um seine Gedanken zu sammeln, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, seine Angelegenheiten zu regeln, wie die Umstände und die besonderen Bedürfnisse und Rechte anderer es erfordern, dann ist es notwendig, daß beide einen höheren Grad idealer Freundschaft als Norm erwählen, mögen ihre Beziehungen im übrigen sein wie sie wollen.

Im Interesse der individuellen Entwicklung und des Fortschritts in der Richtung des Geistes, ist es für jedes im Denkalter angelangte Mitglied der Familie wesentlich, einen stillen Zufluchtsort zu besitzen, wo es äußerlich für sich allein und auch geistig frei sein kann, um zu studieren und zu beten, sein Problem auszuarbeiten und seinen Lebenslauf, so weit als möglich, ohne menschliche Hilfe zu bestimmen. Für Kinder jugendlichsten Alters ist es ungemein heilsam, wenn sie diese Gewohnheit der gelegentlichen Absonderung zum ruhigen Nachdenken — sei es auch nur für einige Augenblicke — pflegen, selbstverständlich nicht unter dem entmutigenden Druck eines Gefühls der Verurteilung, das geneigt ist, entweder das aufrichtige Streben zu lähmen oder, andererseits, einen heißen Groll zu entflammen, sondern lediglich um der ruhig gelassenen Ermahnung zu folgen, die Gefährten auf kurze Zeit zu verlassen, um die Gedanken zu klären und das Tun durch Wahrheit und Liebe zu beherrschen, insbesondere dann, wenn das Spiel zu ungestüm geworden oder in Streitsucht auszuarten droht. Das häufige oder ständige „Behandeln“ der Kinder, ohne sie hiervon in Kenntnis zu setzen und ihre Mitarbeit in Anspruch zu nehmen, oder den Versuch zu machen, ihnen den Wert dessen, was sie empfangen, einzuprägen, ist eine verfehlte Methode, die nicht nur in manchen Fällen für das geringe Interesse an der Sonntagsschule verantwortlich ist, sondern auch oft bei Heranwachsenden, zu einer Zeit, wenn ihre sterbliche Auffassung von Leben von so mannigfachen Interessen erfüllt ist, die ihnen mehr Befriedigung zu bringen scheinen, das gänzliche Überbordwerfen der Christlichen Wissenschaft zur Folge hat.

Eine unter Freunden vielfach vorherrschende Gewohnheit, über ihre gegenseitigen Angelegenheiten in ungehinderter und seichter Unterhaltung zu plaudern, bedeutet für den christlich-wissenschaftlichen Praktiker häufig eine erhebliche Erschwerung des von ihm zu lösenden Problems. Da hat zum Beispiel jemand ein Gebrechen; es wird rückhaltlos besprochen, und das Heilresultat, beziehungsweise dessen Ausbleiben, wird in aller Offenheit erörtert. Der Patient ist sich nicht bewußt, wie sehr er des Schutzes bedarf; die Freunde, in ihrer wohlmeinenden, geschwätzigen Teilnahme, legen sich nicht Rechnung ab, daß ihm Schutz vor ihrer unberufenen Einmischung mehr als alles andere not tut. Unterdessen verwendet der Praktiker übergebührlich viel Zeit auf die Erzielung eines Ergebnisses, das entweder ganz ausbleibt oder unverhältnismäßig gering ist. Allgemein gesprochen, ist ein Erörtern der Probleme anderer für die Anhänger der Christlichen Wissenschaft ebenso nachteilig, wie für Außenstehende, die sich dieser Gewohnheit hingeben. Alles, was der Irrtum braucht, um Irrtum zu sein, ist ein Stimmorgan und eine Zuhörerschaft. Wir sollten alle zu jeder Zeit auf der Hut sein, damit das menschliche Element in uns nicht zum Kanal für den Irrtum wird, durch welchen dieser zu den Gedanken, die uns beschäftigen, Eingang findet.

Die Arbeit der Hausmutter und Hausfrau, unstreitig von großer Wichtigkeit, wenn richtig und gründlich getan, wird nur zu oft nicht nach ihrem wahren Werte eingeschätzt, und es geschieht häufig genug, daß das Familieneinkommen nicht gerecht und angemessen verteilt wird. Eine vernünftige und unparteiische Regelung dieser Frage würde der Haushaltsführung sehr zustatten kommen, und gegenseitige Anerkennung und richtige Einschätzung der verhältnismäßigen Wichtigkeit der Arbeit und der an einen jeden gestellten Anforderungen sollte eine Verteilung des Einkommens zur Folge haben, die einem jeden in der Handhabung und Geschäftsführung seines Arbeitskreises angemessene Freiheit zusichert. Es ist für eine Frau und Mutter, die gewissenhaft ihre mannigfachen Pflichten im Hause erfüllt, sehr erniedrigend, sich das nötige Geld erbitten zu müssen oder gar einen peinlich genauen Bericht über ihre hauswirtschaftlichen Pläne vorzulegen, ehe ihre Forderung gewährt wird.

Selbst in Familienkreisen, wo die gegenseitigen Rechte persönlicher Freiheit und des gelegentlichen Sichzurückziehens bei den Familienmitgliedern in hoher Achtung stehen, erstrecken sich diese Rechte nicht immer auf die Köchin, das Dienstmädchen oder die Kinderfrau, die doch zur Bequemlichkeit und dem Wohle aller beitragen. In wie mannigfacher Weise müssen sich letztere eine willkürliche Beeinträchtigung ihrer sowieso knapp bemessenen Mußezeit gefallen lassen, so daß ihnen oft zum Studium und zur geistigen Erfrischung, die zur Gesundheit so notwendig sind, keine Zeit übrig bleibt. Ihre Arbeit ist unter Umständen so angeordnet, daß sie ausschließlich dem Interesse der Familie dient, was zuzeiten sogar das Aufgeben des Gottesdienstes von ihnen fordert. Ist dies nicht ein offenbarer Verstoß gegen das Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“? Wer sich in solch selbstsüchtiger Weise über die Rechte des Fremdlings, der in seinen Toren weilt, hinwegsetzt, braucht nicht erstaunt zu sein oder es rätselhaft zu finden, wenn er die Christliche Wissenschaft in gewissen persönlichen Angelegenheiten nicht erfolgreich demonstrieren kann. Wo eine so offenbare Pflicht versäumt wird, kann gerechterweise Gesundheit und Harmonie nicht erwartet werden.

Auch das Recht der Hausgäste auf ein ausreichendes Maß des Alleinseins wird nicht immer gewahrt. Gastfreundschaft verlangt nicht einen ununterbrochenen Strom ständiger Unterhaltung und Zerstreuung oder gar die unablässige Aufmerksamkeit eines Familienmitglieds. Wenn uns daran gelegen ist, daß unsere Gäste ihren Besuch bei uns erfrischend statt ermüdend finden sollen, dann werden wir für sie ein geheiligtes Plätzchen finden, wohin sie sich jederzeit nach freiem Ermessen und ohne viel Aufhebens zurückziehen können, um allein zu sein. Selbst solche Gäste, die nicht an regelmäßige tägliche Lektüre gewohnt sind, wissen dieses Vorrecht, dann und wann für einige Zeit allein sein zu dürfen, zu schätzen.

Es ist weder der Zweck dieses Aufsatzes über die Grenzen der mehr handgreiflichen Irrtümer hinauszugehen, wie sie bei der Einmischung in die gesetzliche Freiheit derer, die wir zu lieben vorgeben, vorkommen, noch das Thema unbegehrter mentaler Behandlung zu erörtern. Indessen, wenn wir in Betracht ziehen, daß unserer Gedanken in der Regel über die Tragweite unseres Handelns hinausreichen, ist es eine ernst zu erwägende Frage, ob wir selbst die mildeste Form des Despotismus ausüben könnten, ohne die mentale Freiheit unseres Bruders zu beschränken. Der irdische Vater, dessen Fürsorge von Liebe und Furcht in gleichem Maße beeinflußt wird und der sein Kind auf Kosten dessen Wachstums vor den Folgen des Ungehorsams zu bewahren sucht, seinen Eigenwillen nährt, weil es ihm an moralischem Mut fehlt, ihn zu zügeln und es dadurch verweichlicht, daß er an dessen Statt zu viele Entscheidungen trifft; der Haustyrann, sei es Mann oder Frau, der sich in seiner Eigenschaft als Haupt der Familie berechtigt fühlt, die Mitglieder derselben einer peinlichen Überwachung zu unterziehen und sie seinen eigenmächtigen Bestimmungen unterzuordnen; das zärtliche Liebespaar, das sich eine Zeitlang dem Mesmerismus gegenseitiger Anhänglichkeit so sehr hingibt, daß keine von beiden mehr sich selbst ist; Geschwister, deren Gefühl liebevoller Verantwortlichkeit für das gegenseitige Wohlergehen in ein Überwachungssystem ausartet, das den Gegenstand der Beobachtung in einen Zustand hilfloser Abhängigkeit versetzt oder in ihm den Wunsch erweckt, davonzulaufen; der Sohn oder die Tochter, deren übermäßige kindliche Anhänglichkeit, den Eltern unter dem Vorwande des Alters die Tätigkeit wehrt und durch übertriebene Fürsorge für ihr Wohlbefinden sie der Lebensfreude beraubt, statt ihre Ansprüche auf Gesundheit und tatkräftiges Arbeiten, worauf sie selbst in vorgerückten Jahren volle Berechtigung haben, kräftig zu unterstützen; der jugendliche Eiferer, fest entschlossen jedermann, ob gewollt oder nicht, in das Reich Gottes hineinzudrängen, zu ziehen oder zu tragen, und der in seinem leidenschaftlichen Eifer vergißt, daß, wie Mrs. Eddy sich in Wissenschaft und Gesundheit (S. 25) ausdrückt: „Die Göttlichkeit des Christus“ sich in „der Menschlichkeit Jesu“ offenbarte,— sie alle, und viele mehr, bedürfen des Gebets um die wahre Nächstenliebe, jene göttliche Eigenschaft, die nicht allein moralischen Mut, Geduld, Selbstbeherrschung und unerschütterliche Liebe verleiht, sondern auch die Fähigkeit, den menschlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Für sie alle gilt der Ausspruch Jesu: „Löset ihn auf und lasset ihn gehen!“

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