Demut ist ein ausgezeichnetes Mittel gegen Müdigkeit. Christus Jesus lehrte dies schon vor Jahrhunderten, und es ist seitdem kein besseres Rezept gegeben worden. Er zeigte, was nötig ist, um die Mühseligen und Beladenen zu erquicken. Er versprach nicht nur, daß er ihnen Ruhe geben werde, sondern er sagte ihnen auch, daß sie etwas lernen müssen. „Lernet von mir”, sagte er, „denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen”.
Henry Drummond machte einmal auf „die außergewöhnliche Ursprünglichkeit dieser Äußerung”, auf das Ungewöhnliche der Verbindung der beiden Wörter „lernen” und „Ruhe” aufmerksam. „Wie wenige”, sagt er, „haben sie je miteinander in Verbindung gebracht — haben je gedacht, daß Ruhe etwas sei, was gelernt werden müsse; haben sich je so damit befaßt, wie wenn sie eine Sprache lernen würden; sie je geübt, wie sie Violinspielen üben würden”. Aber woran muß man arbeiten? fragt er weiter. Was vermag, wenn ordentlich gelernt, das rastlose Menschenherz zur Ruhe zu bringen? Jesus antwortet darauf ohne das geringste Zögern. Er führt nur zwei Dinge an: Sanftmut und ein demütiges Herz.
Was für ein wunderbares Rezept gegen menschliche Spannung und Niederlage, enttäuschten Stolz, verletzte Eitelkeit, vereitelten Ehrgeiz! Sind wir mühselig und beladen? Sehnen wir uns wirklich nach Ruhe? Dann laßt uns den Wegweiser beim Wort nehmen! Laßt uns Demut üben!
Diesen Gedanken einer mentalen oder geistigen Verordnung gegen ein scheinbar körperliches Leiden legt auch Mrs. Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, auf Seite 268 in „Miscellaneous Writings” klar dar. Sie schreibt: „Gottes Arzneien für die Kranken sind Dosen Seiner eigenen Eigenschaften”. Sanftmut, Bescheidenheit, Herzensdemut sind fraglos von Gott stammende Eigenschaften, und man braucht nicht zu fürchten, daß man von dieser Art Arznei zuviel nimmt.
Selten in der menschlichen Geschichte bedurfte die müde Menschheit mehr der Ruhe als gegenwärtig. Selbst in einer Zeit weitverbreiteter Arbeitslosigkeit mögen viele immer noch das Empfinden haben, als ob sie sich in bedrängter Lage befinden und zu viel zu tun hätten, ein Gefühl der Eile und aufgeregter Hast, die oft zu den tatsächlich an sie gestellten Forderungen in gar keinem Verhältnis steht. Als die Welt vor einigen Jahren den Höhepunkt materiellen Wohlstandes erreicht hatte, schien es, als ob sie gezwungen war, die meiste Zeit mit hoher Geschwindigkeit zu leben. Fast jedermann hatte es eilig. „Immer vorwärts!” war das Losungswort des Tages. Dennoch lastet gerade heute, nachdem sich der Geschäftsgang angeblich etwas verlangsamt hat, noch auf vielen dasselbe Druckgefühl, und sie haben keine materielle Lösung für das Gefühl der Rastlosigkeit und der Vereitelung ihrer Pläne gefunden. Selbst das Heim ist nicht immer so frei davon und „die Mutter eines Kindes ist”, wie unsere Führerin sagt, „oft mehr in Anspruch genommen als die Mutter von acht” (Miscellaneous Writings, S. 7).
Müdigkeit und Erschöpfung sind nicht die Folge davon, daß man zuviel zu tun hat. Sie sind vielmehr die Erzeugnisse des Glaubens an ein von Gott getrenntes Selbst, des Hochmuts und der Furcht, der Ungeduld und der Anmaßung, des Verkennens, daß wir nichts aus uns selber tun können. Gott ist die einzige Quelle wahrer Kraft; und der anmaßende Glaube an ein von Ihm getrenntes Selbst ist es, was müde wird. Das kann nicht anders sein.
Vielleicht machen wir uns unbewußt ein Bild davon, wie ein tüchtiger Geschäftsmann oder eine tüchtige Geschäftsfrau sein sollte, und zwingen uns, dementsprechend zu handeln, während wir bessere Arbeit leisten und zugleich in großem Maße Ruhe und Erholung genießen würden, wenn wir nur selbstlos genug wären, um wahrhaft demütig zu sein, und alle nötige Tatkraft oder Weisheit beim göttlichen Gemüt suchten.
Bei der Hast des heutigen Verkehrs ist nicht nur Höflichgeit sondern auch wahre Demut erforderlich, unsern Wagen beiseite zu lenken, damit ein anderer vorbeifahren kann, und wir mögen daher versucht sein, uns durchzuwinden und vorzudrängen, anstatt daß „einer dem andern mit Ehrerbietung zuvorkomme”, wie Paulus sagt, und so etwas von der Ruhe erlange, die Jesus denen verhieß, die von ihm lernen würden. Es erfordert Demut, der Ansicht der Welt entgegenzutreten: einfach, gelassen und kindlich zu sein; das menschliche Sehnen und Streben, für klug oder weise zu gelten, aufzugeben. Und dennoch, welchen Frieden und welche Ruhe wir haben, wenn wir des Meisters Mahnung befolgen und von Herzen demütig sind!
Demut ist nicht Schwäche. Jeder Athlet weiß, daß sein Kraftgefühl nicht von Anspannung sondern vom Nachlassen der Anspannung kommt. Geistige Kraft entspringt nicht der Selbstanmaßung, sondern dem Bewußtsein unseres Einsseins mit Gott, und die Menschen werden erst dann wirklich Ruhe finden, wenn sie beginnen, Demut zu üben, und verstehen lernen, daß Gott „die Werke tut”.
Charakterstärke ist oft mit Selbstanmaßung verwechselt worden; aber die Christliche Wissenschaft lehrt, daß wahre Charakterstärke Demütigung vor Gott ist, und daß wir, wenn wir uns der göttlichen Gegenwart und der Allgegenwart der Liebe mehr bewußt werden, vielleicht zu unserer Überraschung finden werden, daß wir uns nicht zu behaupten und nicht einmal zu verteidigen brauchen, um das Gute zu erlangen.
Wahre Demut ist jedoch durchaus nicht mit bloßer menschlicher Selbsterniedrigung verwandt. Durch Sanftmut und wahre Demut lernen wir nicht weniger sondern mehr von des wirklichen Menschen Herrschaft „über die ganze Erde” widerspiegeln. Ja, wir können nur durch Demut wirksam „den alten Menschen ablegen” lernen und uns und andere zu der Betrachtung der Erhabenheit und Vollständigkeit des wirklichen Menschen im Bild und Gleichnis seines Schöpfers erheben und dadurch beweisen, daß wir durch den, der uns mächtig macht, Christus, alles vermögen.
Zu dem, der mit Gott wandelt und wahrhaft demütig ist, kommt Gutes, wovon er sich nie hatte träumen lassen; Hindernisse verschwinden vor ihm; scheinbar verschlossene Türen braucht er nur zu berühren, und sie öffnen sich; und durch Sanftmut und wahre Demut findet er jenen Frieden, den die Welt weder geben noch nehmen kann. In „Miscellaneous Writings” (S. 1) wird uns gesagt: „Demut ist der Schrittstein zu einer höheren Erkenntnis der Gottheit. Der emporstrebende Sinn sammelt aus der Asche des vergehenden Selbst neue Formen und seltsames Feuer und entsagt der Welt”.
