In jener Stunde wichtiger Entscheidung, als Jesus mußte, baß Judas ihn verraten würde, war er nicht um sich selber besorgt, sondern um die Welt, die zu retten er gekommen war, und von der er so bald scheiden sollte. Seine größte Aufgabe, auf die er während der kurzen Jahre seines Messiasamts unermüdliche Geduld und Hingebung verwendet hatte, war die Vorbereitung dieser kleinen Schar Nachfolger zur Weiterführung seines Werks. Für diese und für die Menschheit konnte das Leben nie mehr ganz das sein, was es vor seinem Erscheinen war; denn mit seinem Erscheinen war etwas bisher Unbekanntes gekommen. Von ihrem Verständnis und ihrer Treue würde es nun abhängen, wie schnell die Erneuerung verlaufen würde.
„Ein neu Gebot gebe ich euch”, sagte er, „daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe, auf daß auch ihr einander liebhabet”. Und dann, gleichsam um ihnen ihre gemeinschaftliche Verantwortung zum Verständnis zu bringen, um ihnen zu Gemüte zu führen, daß sie nicht mehr bloß Privatpersonen waren, die nur sich selber lebten, sondern mit einer großen öffentlichen Mission betraut waren, fügte er hinzu: „Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt”.
Dies war also in seinen Augen der höchste Beweis der Jüngerschaft. Dies würde sie als von ihm gelehrt ausweisen. Weder predigen, wie er gepredigt hatte, noch heilen, wie er geheilt hatte, noch die Willigkeit, Entbehrung, Verfolgung, sogar Kreuzigung zum Beweis ihrer Treue und Hingebung würde genügen, sie als seine Jünger erkennen zu lassen. Ob sie Liebe zueinander hatten—dies sollte der Beweis ihres Gehorsams gegen das neue Gebot sein; hieran sollte die Menschheit erkennen können, daß er, der bereit war, sein Leben zu lassen, um es wieder zu nehmen, es nicht umsonst getan hatte.
Diese Bibelstelle auslegend, schreibt Mary Baker Eddy (Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1902, S. 8): „Das neue Gebot Christi Jesu zeigt, was wahre Geistigkeit ist, und was ihre harmonischen Wirkungen auf die Kranken und die Sünder sind. Keiner kann die Menschheit heilen oder umgestalten, wenn er nicht von Liebe und Wohlwollen gegen die Menschen getrieben ist”.
Die Jünger Jesu müssen wohl oft das Bedürfnis gehabt haben, über diese ermahnenden Worte ihres Meisters nachzudenken, und auch die Christlichen Wissenschafter sollten beständig darüber und über die Ermahnung ihrer geliebten Führerin nachdenken. Denn dies ist eine direkte Aufforderung nicht zur Unverletzlichkeit der Liebe, die in Opfer und Dienst für die Außenwelt zum Ausdruck kommt, sondern zur Liebe zueinander. Jesus hatte erfahren, was für Versuchungen an diejenigen herantreten, die für eine gemeinsame Sache zusammenarbeiten. Er wußte, wie ungestüm die Einflüsterungen der Unduldsamkeit und des Mißtrauens, des Wettbewerbs, des Stolzes, des menschlichen Willens und der Eigenliebe waren, die diejenigen bestürmten, die von außen heftig getadelt und verfolgt wurden. Infolgedessen mag die Kundwerdung der Wahrheiten, denen die Menschen ihr Leben gewidmet haben, vorübergehend verzögert und aus Abneigung, zu lieben, wie Jesus liebte, oft bezweifelt worden sein.
Auf Seite 8 in „Nein und Ja” hat Mrs. Eddy ihre Haltung gegen alle Meinungsverschiedenheiten, die je unter Christlichen Wissenschaftern entstehen können, überaus klar gemacht. Sie schreibt: „Ich schärfe meinen Schülern ein, sich nicht über Lehren und Überlieferungen oder über die falschen Auffassungen von der Christlichen Wissenschaft zu streiten und anzufeinden, sondern zu arbeiten, zu wachen und zu beten, daß Sünde, Krankheit und Tod abnehmen”.
Es ist äußerst wichtig, daß sich der Christliche Wissenschafter seinen Sinn liebevoller Langmut bewahrt; daß er daran denkt, daß er nicht für sich, noch um den Beifall anderer arbeitet, sondern, wie Jesus es tat, um der Menschheit Erlösung zu bringen, um die Oberhoheit des Guten zu beweisen.
Es können oft scheinbar wichtige und weitreichende Meinungsverschiedenheiten entstehen, die zu Streit und Auseinandersetzung führen und Bitterkeit nach sich ziehen. Das ist nichts Neues. Seit sich die Anmaßungen vieler Gemüter und daher vieler Willen behaupten, ist dies die Art und Weise der Sterblichkeit. Aber die Art des Christus, diese Übel zu meistern, ist neu—weil sie, wenn sie einmal auf diese Art gemeistert sind, nie mehr gemeistert zu werden brauchen; denn sie sind dann geheilt.
Nichts wünscht der ernste Christliche Wissenschafter mehr, als der Welt zu beweisen, daß die von Mrs. Eddy entdeckte Wahrheit Erlösung von jedem Übel bedeutet. Aber er denkt nicht immer daran, daß das Wichtigste im Beweis seiner eigenen Jüngerschaft seine Fähigkeit ist, in liebevoller Freundschaft mit anderen Christlichen Wissenschaftern zu leben. Keine Anstrengung des tierischen Magnetismus, wie verkleidet dieser auch sei, darf ihn davon abhalten, seine Brüder zu lieben oder ihm das zu rauben, was ihn mit dem Christus wesenseins macht.
„Gegen die Überlegenheit anderer gibt es kein anderes Heilmittel als Liebe”, erklärte Goethe. Das einzige Heilmittel gegen jeden widrigen Umstand ist Liebe. Daß wir unsere Einheit mit Gott und miteinander bewahren, darauf kommt es für unsern eigenen Seelenfrieden, für den Segen der Menschheit, für den Fortschritt unserer Sache an. Dies bedeutet nicht, daß wir uns dem Unrecht unterwerfen oder es entschuldigen, daß wir unsern Maßstab herabsetzen, sondern es bedeutet Weitblick, Gemütsruhe, Duldsamkeit und Rücksicht auf andere, das Unpersönlichmachen des Bösen. So wird das Denken der Menschen, während es jede menschliche Beziehung weise und anmutig gestaltet, befreit und für jene größten Aufgaben geheiligt, von denen das allgemeine Kommen des Himmelreichs abhängt.
In dieser Liebe zueinander wird es keine Überlegenheit, keine Unterlegenheit geben; niemand wird herrschen oder beherrscht werden. Aber überall wird sich edle Absicht, selbstloses Streben, Herzenseinfalt zeigen. Es wird nur den einen Wunsch geben—des Beispiels und des Ziels würdig zu sein, die diejenigen immer vor Augen haben, die berufen sind, ihre Jüngerschaft zu beweisen, ihre Liebe zu erzeigen.
Unsere Führerin widmete ihr Leben ganz dem Halten dieses neuen Gebots und lehrte andere, es zu tun. Anschließend an eine Schilderung des Wegweisers, dessen Beispiel den Christlichen Wissenschaftern das hohe Ziel und das Mittel, es zu erreichen, enthüllt hat, schreibt sie auf Seite 206 und 207 in „Miscellaneous Writings”: „Wenn ihr auf der Wanderung zuweilen nach Ruhe ‚am frischen Wasser‘ seufzt, denkt über diese Lehre der Liebe nach! Lernt ihren Zweck verstehen, und in Hoffnung und Glauben, wo ein Herz dem andern gegenseitig gesegnet begegnet, trinkt mit mir das lebendige Wasser des Geistes meines Lebenszwecks—der Menschheit die echte Erkenntnis der praktischen, wirksamen Christlichen Wissenschaft einzuprägen!”