Eine der trügerischten Annahmen des menschlichen Gemüts ist, daß das ewige Leben nur dadurch zu gewinnen sei, daß man die Erfahrung macht, die Tod genannt wird. Die Annahme, daß das Erlangen der Unsterblichkeit bis zum sogenannten Tode aufgeschoben werden müsse, hat das Menschengeschlecht in Knechtschaft gehalten und das Erscheinen der Erlösung, die bereits vorhanden ist, verhindert.
Heute ändern sich tief eingewurzelte theologische Ansichten über diesen Gegenstand allmählich durch den Einfluß der Christlichen Wissenschaft, die auf die Bibel gegründet ist. Hesekiel verkündigt den göttlichen Rat: „Ich habe kein Gefallen am Tode des Sterbenden, spricht der Herr Herr. Darum bekehret euch, so werdet ihr leben”. Jahrhunderte früher erkannte Mose die große Wahrheit des geistigen Seins und ermahnte das Volk, Gott zu lieben und Ihm zu gehorchen, mit den Worten: „Er ist dein Leben und dein langes Alter”. Und später betonte David die Fortdauer der wahren Eigenart, indem er erklärte: „Der Herr ist meines Lebens Kraft”. Andere Verfasser nahmen wahr, daß ewiges Wesen ganz von Tod und Auflösung getrennt ist und keineswegs damit zusammenhängt. Und Christus Jesus beanspruchte immergegenwärtiges Leben für sich und erklärte so im Prinzip, daß er geistig lebte, weil Gott sein Leben war. Und dies machte die Verwandtschaft unauflöslich.
Ein wichtiger Punkt in der Lehre der Christlichen Wissenschaft ist im ersten der sechs Glaubenssätze enthalten, die Mary Baker Eddy auf Seite 497 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” gegeben hat. Er lautet: „Als Anhänger der Wahrheit haben wir das inspirierte Wort der Bibel zu unserem geeigneten Führer zum ewigen Leben erwählt”. Im Lichte der Bestimmung des Begriffs „ewig” als „von unendlicher Dauer; immerwährend; ohne Anfang oder Ende” erklärt die Christliche Wissenschaft die unbedingten Tatsachen des Lebens und des Daseins. Wenn sie erklärt, daß nur der Geist das Leben ist, ist „das inspirierte Wort der Bibel” für sie maßgebend.
Weil es nur einen Gott gibt, und weil Gott das Leben ist, gibt es nur ein Leben, und sein Ausdruck ist der Mensch im Gleichnis Gottes, des Lebens. Der Mensch hat sein Dasein immer im Leben gehabt und wird es immer im Leben haben. Der Mensch wird nicht durch Geburt in ein materielles sogenanntes Leben hineingestoßen, noch durch den Tod daraus herausgestoßen, noch wird er durch ein materielles Ereignis davon aufgeweckt. Da der Mensch mit dem unendlichen Leben eins ist, spiegelt er ununterbrochen die unendliche Tätigkeit, die Freude und die Harmonie der Seele wider. Er bleibt ewig in zärtlicher Beziehung zu seiner göttlichen Quelle und lebt so im ewigen Leben.
Durch Annahme dieser geistigen Tatsachen wird man sich seiner Einheit, seines Einsseins mit dem Leben mehr bewußt, wie Mrs. Eddy zeigt, wenn sie schreibt (Unity of Good, S. 17): „So vermählt sich der Mensch in der Christlichen Wissenschaft stündlich mit Gott oder anerkennt vielmehr eine von aller Ewigkeit her bestehende Einheit”. Übereinstimmend mit seiner Erkenntnis des unaufhörlichen, unerschöpflichen, immergegenwärtigen, unwandelbaren geistigen Daseins ergreift man das Leben, das Gott ist, und weiß man, daß man als Gottes Gleichnis jetzt im ewigen Leben lebt.
Jesus sagte einmal zu seinen Jüngern: „Selig sind eure Augen, daß sie sehen”, womit er meinte, daß sie die Tatsachen des geistigen Seins sahen, die die Weltlichgesinnten nicht begreifen konnten. Diese Wahrheiten wurden nicht durch die Sehwerkzeuge, sondern durch den gepflegten geistigen Sinn wahrgenommen. Jesus nahm das geistige Dasein als freudige Wirklichkeit, als gegenwärtige Tätigkeit wahr. Er lehrte es, bekundete es und bewies es. Es war die Grundlage aller seiner Beweise. Als er Lazarus vom Tode auferweckte, gab er nicht zu, daß Lazarus nicht lebte, obgleich alle seine Freunde ihn für tot hielten. Er wußte, daß sein wahres Sein unsterblich war; er sprach zu ihm, und Lazarus erwiderte, indem er befreit von dem Traum des Todes hervorkam. Paulus bewies dieselbe Wahrheit für Eutychus, und Petrus bewies sie zu Joppe für Tabea.
Der große Meister sagte: „Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen”. Diese Grundtatsachen des Lebens zu erfassen, war unerläßlich. Wer ihm nachfolgt und seine Worte oder Ermahnungen hält, sagte er, würde den Tod nicht sehen ewiglich. Er versprach die Verwirklichung des ewigen Lebens durch das Verständnis Gottes und Christi als des Sohnes Gottes oder des Ausdrucks des Lebens.
Jesu reiner Sinn des Lebens erleuchtete das oft unglückliche Los derer, die ihn suchten. Vor seinem reinen Bewußtsein des unendlichen, unkörperlichen Lebens begann ihr falscher Sinn eines materiellen Lebens zu verblassen und sich zu verändern. Sein Verständnis des wirklichen Seins vollbrachte, was denen, die zu ihm kamen, Wunder zu sein schienen. Es heilte verdorrte Glieder, speiste die Hungrigen und heilte die Kranken, indem es ihnen die gegenwärtige Tatsache der Harmonie, der Tätigkeit und der Genüge bewies.
Heute wie zur Zeit Jesu ist die Menschheit, die an die Wirklichkeit der Materie glaubt, in der Gewalt eines materiellen Sinnes des Lebens. Das menschliche Gemüt findet es leichter zu glauben, daß Kräfte außerhalb seiner selbst es regieren und Wirkungen hervorbringen können, als zu verstehen, daß es durch Wahrnehmung und Vergegenwärtigung geistiger Wahrheit sein Geschick selber lenken kann. Aber der Glaube an ein sogenanntes materielles Leben kann die Wahrheiten des göttlichen Seins nicht verbergen oder störend zwischen Gott und den Menschen treten. Denn Offenbarung enthüllt, daß „während der fleischliche Mensch und die körperlichen Sinne keine geistige Idee empfangen und kein Gefühl der göttlichen Liebe empfinden, der geistige Mensch und seine geistigen Sinne die Natur und das Wesen des individuellen Unendlichen einatmen”, wie unsere geliebte Führerin schreibt (Nein und Ja, S. 19).
Die Christliche Wissenschaft enthüllt, daß das, was materielles Leben zu sein scheint, nur ein falscher Begriff des fleischlichen Sinnes ist. Da der fleischliche Sinn „eine Feindschaft wider Gott”, Wider das Leben ist und behauptet, daß er Anfang und Ende habe, ist er so als ein Traum, als vorübergehend und wesenlos, unwirklich und nichtbestehend bloßgestellt. Der sterbliche Mensch, der die Freuden und Schmerzen des materiellen Sinnes erlebt, ist nur ein Traummensch, der das wirkliche Dasein in der Wahrheit oder dem Leben nicht wahrnimmt. Der wirkliche Mensch ist geistig und lebt ewig im Reiche des Geistes, vollständig getrennt vom materiellen Sinn.
Leben muß dadurch gelernt werden, daß wir das Leben leben, beweisen und widerspiegeln; und wir müssen wissen, was wir tun und was von uns gefordert wird, damit wir von dem Traum des Lebens in der Materie zu der Wirklichkeit und Gegenwart des Lebens in Gott erwachen können. Dieses Erwachen befreit uns nicht auf einmal von allem Glauben an die Materialität, noch beraubt es uns eines rechtmäßigen Genusses. Es macht dem Ringen, das Zeugnis des materiellen Sinnes zu überwinden, nicht sofort ein Ende, sondern nach und nach, wenn das Licht über der Finsternis der materiellen Annahme dämmert, finden wir, daß wir immer weniger auf die Materie und ihre Ansprüche, immer weniger auf ihre falschen Verlockungen vertrauen.
Wenn Gott und Seine geistige Schöpfung uns klarer, wirklicher werden, beginnen wir allmählich, uns nicht als materiell, sondern als geistig anzusehen. Unwirkliche Annahmen, die so lang ein Teil unseres Selbst zu sein schienen, verschwinden nach und nach. Das stillschweigende Annehmen der Begrenzungen der grausamen Gesetze menschlichen Ursprungs verblaßt und verschwindet, wie der Nebel vor der aufgehenden Sonne vergeht. Wenn der mentale und geistige Horizont die Erhabenheit und Vollkommenheit des geistigen Weltalls in zunehmendem Maße umfaßt, und wenn sich das Denken in die göttliche Liebe versenkt, werden wir uns des ewigen Lebens und unserer Einheit mit Gott mehr bewußt. Erhöhtes Denken erfaßt hier und jetzt die Wirklichkeit des göttlichen Lebens und nimmt den Menschen als die Idee des Lebens wahr, die alle Eigenschaften Gottes widerspiegelt. Dann sind die wachen Stunden nicht mehr trüb und düster; denn das Denken ist willig zu beweisen, daß das wirkliche Sein Gemüt und Idee ist.
Dann beginnen wir, die Freude am Leben—eine oft falsch angewandte Redensart—die Freude bewußten Lebens in Gott verstehen zu lernen. Dann kommen Zeichen der geistigen Tatsachen des Lebens ans Licht. Das Gute wird natürlicher, Freunde werden treuer, die Welt wird schöner. Diese Kundwerdungen lassen ein größeres Verständnis der geistigen Wirklichkeit erkennen. So nimmt man durch den geistigen Sinn „die Natur und das Wesen des individuellen Unendlichen” in sich auf, und man bezeugt der Welt, daß man glücklicher, gesünder, heiliger ist als zuvor. Ihr Lieben, „bekehret euch, so werdet ihr leben!”