Aus den Berichten in den Evangelien ersehen wir, daß Jesus an jede Heilung dem Fall entsprechend mit einem geistigen Verfahren herantrat, obgleich er das unwandelbare göttliche Prinzip und die Vorschrift der Bibel veranschaulichte. Sowohl die Art und Weise, wie Jesus an einen Fall herantrat, als auch die Ermahnung, die er der Heilung folgen ließ, waren nie gewohnheitsmäßig, sondern unverkennbar göttlich eingegeben. Auf der unveränderlichen Grundlage der Wahrheit, daß Gott und der Mensch als Gottes vollkommenes Ebenbild ewig vollkommen sind, konnte er die Unwirklichkeit, das Nichtbestehen gedanklicher und körperlicher Störungen dadurch augenscheinlich machen, daß er den Sterblichen Gottes Allerhabenheit und Allheit enthüllte. Er ließ nicht zu, daß Einflüsterungen des menschlichen Gemüts das Erkennen des Christus trübten und das Beweisen der Herrschaft des Gemüts über den Körper verhinderten.
Das christlich-wissenschaftliche Verfahren bei Jesu Heilungen ist von allen mentalen und materiellen menschlichen Heilverfahren verschieden. Weil die Sterblichen glauben, Krankheit sei materiell und habe wenig mit ihrem Denken zu tun, kümmern sich menschliche Heilverfahren nicht darum, die Christlichkeit des Hilfesuchers, durch die Gottes allerhabene und völlig gute Art sich bekundet, zu fördern. Sie tragen durch ihre Anwendung feststehender materieller Heilmittel und mentaler hypnotischer Formeln nicht zum sittlichen und geistigen Wachstum der Menschen bei. Die Individualität des Hilfesuchers bleibt unbeachtet, statt daß sie befreit wird. Diese Verfahren stehen im Gegensatz zu dem Christus-Heilen, das die Vollkommenheit Gottes und des Menschen offenbar macht und beweist. Christlich-wissenschaftliche Heilungen kommen durch dasselbe unterscheidende, geistige Verfahren, das Jesus anwandte, zustande. Mary Baker Eddy hat bewiesen, daß ihr Verfahren das ursprüngliche Christus-Heilen ist, das im Urchristentum unauflöslich inbegriffen war. Und sie hat es bewiesen durch jahrelanges Forschen, durch Offenbarung und dadurch, daß sie nur durch geistige Macht Sünde und Krankheit aller Art heilte. Sie hat ihre Nachfolger dieses christlich-wissenschaftliche Verfahren gelehrt.
In der Christlichen Wissenschaft wird jeder Fall nicht durch ein Wiederholen philosophischer Formeln oder ein bloßes Hersagen bekannter Worte, sondern durch das Gebet geistigen Verständnisses geheilt. In jedem Fall muß Gottes Allheit und des Menschen Vollkommenheit in zunehmendem Maße erkannt werden. Und wie bei Jesu Wirken sollte die körperliche Heilung in der Christlichen Wissenschaft von geistigem Erwachen begleitet sein. Daß das ursprüngliche christliche Heilen und das heutige Heilen der Christlichen Wissenschaft ein und dasselbe Verfahren sind, wird offensichtlich, wenn man bestimmte, von Jesus geheilte Fälle genau untersucht und im Licht von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ von Mrs. Eddy versteht.
Im 5. Kapitel des Evangeliums des Markus sind drei Heilungen berichtet, wo Jesus jeden Fall seiner besonderen Art entsprechend ganz verschieden, aber jeden in genauer Übereinstimmung mit dem zugrunde liegenden göttlichen Prinzip, Gott, behandelte. Der Verfasser des Evangeliums hat in seiner Beschreibung der verschiedenen Heilungen viel wertvolle Anweisung gegeben. Die Christliche Wissenschaft legt diese Anweisungen geistig und zweckdienlich aus. Sie zeigt die Wissenschaft des Wirkens Jesu, die die Christen heute befähigt, das Christus-Heilen zu erforschen und auszuüben.
Im ersten Fall handelt es sich um einen Mann, der eine Legion Teufel hatte, die alle, mit denen er in Berührung gekommen war, in Schrecken versetzt hatten (Mark. 5, 1–20). Aus der sündigen Annahme, daß Gemüt in der Materie und der Materie unterworfen sei, hatte sich eine Menge Trugvorstellungen entwickelt, bis das Denken durch Selbsttäuschung und Verwirrung zügellos war. Auf Jesu Frage: „Wie heißest du?“, erwiderte er: „Legion heiße ich; denn wir sind unser viele.“ Die Vergegenwärtigung Jesu, daß das göttliche Gemüt, Gott, das Gemüt des Menschen ist, brachte Heilung. Mrs. Eddy führt diesen Fall in Wissenschaft und Gesundheit an. Sie schließt daraus (S. 411): „Diese Bibelstelle scheint zu besagen, daß Jesus das Übel veranlaßte, sich selbst zu erkennen und sich so zu zerstören.“
Jesus fragte gewöhnlich nicht nach dem Namen einer Krankheit. Er brauchte es nicht zu tun. Seine geistige Unterscheidungskraft befähigte ihn, die Gedankengänge des Irrenden zu durchschauen und das Übel auszutreiben. In Fällen, wo die Heilung bedingt, daß der Betreffende die Unwirklichkeit seiner Sündenoder Krankheitsannahme anerkennen und sehen muß, kann es jedoch nötig sein, Fragen zu stellen, wie Jesus in diesem Fall zeigte. In dem Augenblick, wo dem Denken des Irrsinnigen das Nichts des Irrtums zu dämmern anfing, begann der Irrtum seinen Halt an ihm als wesenseins mit ihm zu verlieren. Ohne Wesenseinheit war er bald in seine ursprünglichen säuischen Bestandteile aufgelöst und zerstört.
Darüber, daß die Heilung vollständig war, blieb offenbar kein Zweifel bestehen. Alle, die Zeuge waren, erkannten die vollständige Wiederherstellung an. Jesus hatte die Allerhabenheit des göttlichen Gemüts und die Unversehrtheit des Menschen als der Idee des Gemüts bewiesen. Im Gegensatz zu seinen Anweisungen in gewissen anderen Fällen hieß er den Mann sodann: „Gehe hin in dein Haus und zu den Deinen und verkündige ihnen, wie große Wohltat dir der Herr getan hat.“ Er war demütig gehorsam, und „jedermann verwunderte sich.“
Der zweite Fall, der im 5. Kapitel des Evangeliums des Markus (Vers 25 bis 34) berichtet ist, betrifft die Heilung einer körperlichen Störung, die viele Jahre fortbestanden hatte und durch ärztliche Verfahren nicht geheilt worden war. Der Glaube an materielle Mittel war offenbar erschöpft, und die Leidende war von ganzem Herzen bereit, durch göttliche Hilfe Heilung zu suchen. Von dem Weib, das Heilung suchte, ist berichtet: „Da die von Jesus hörte, kam sie im Volk von hintenzu und rührte sein Kleid an. Denn sie sprach: Wenn ich nur sein Kleid möchte anrühren, so würde ich gesund.“ Sie war augenblicklich geheilt.
Aber dies war keine Glaubensheilung, wie sie manchmal durch blinden Glauben an eine Person oder an etwas Materielles zustande kommt. Warum? Weil Jesus bewußt Anteil daran hatte. Er fühlte geistig den Ruf und ging auf das Bedürfnis ein. Durch sein geistiges Innewerden nahm er wahr, was not tat, und vollbrachte die Heilung. Es war keine hörbare Verbindung mit der Leidenden nötig. Es war nicht wie im vorausgehenden Fall ein Irrtum, der eingesehen werden mußte. Er war augenblicklich zerstört, und dies ist ein handgreiflicher Beweis der im Grunde gedanklichen Beschaffenheit des leiblichen Körpers. „Mentale Berührung“ lautet die Randüberschrift des Abschnitts in Wissenschaft und Gesundheit, in dem Mrs. Eddy über diesen Fall bemerkt (S. 86): „Jesus wußte, was die andern nicht wußten, nämlich, daß es nicht die Materie, sondern das sterbliche Gemüt war, dessen Berührung nach Hilfe verlangte.“
Durch das Erforschen und Anwenden der Christlichen Wissenschaft im Leben wird dieser geistige Sinn entwickelt, der den Ruf nach geistiger Hilfe wie der Meister wahrnimmt und augenblicklich darauf eingeht. Vielleicht ist nicht jede Bitte um Behandlung ein solcher Ruf. Ehe man den Glauben an materielle Mittel aufgegeben hat, weil man entweder die Nutzlosigkeit solcher Verfahren erlebt oder ein Verständnis der Wissenschaft des Gemüts-Heilens erlangt hat, sehnt man sich vielleicht nicht so nach Gott, wie das Weib es offenbar tat, das von Jesus geheilt wurde. Nur die echte Geistigkeit des Heilers kann die Stufe der Empfänglichkeit entdecken, die ein Reifsein für Heilung durch die göttliche Liebe bedeutet. Das Erwerben dieser geistigen Fähigkeit sichert gleichmäßigen Erfolg im christlichen Heilen.
In dem in demselben Kapitel des Evangeliums des Markus (5, 22–24; 35–43) erwähnten dritten Fall zeigt die Art und Weise, wie Jesus an den Fall herantrat, einen Umstand, der für den Erfolg beim Heilen oft sehr wichtig ist. Dieser Umstand ist in Wissenschaft und Gesundheit unter der Randüberschrift „Widerstreitende Mentalität“ zusammengefaßt. Mrs. Eddy führt dort aus: „In der medizinischen Praxis würde man Einspruch erheben, wenn ein Arzt ein Medikament verabreichen wollte, um der Wirkung eines von einem andern Arzt verschriebenen Heilmittels entgegenzuarbeiten“, und sie erklärt dann (S. 424): „In der metaphysischen Praxis ist es ebenso wichtig, daß die Gemüter, die deinen Patienten umgeben, deinem Einfluß nicht dadurch entgegenwirken, daß sie beständig solche Ansichten äußern, die erschrecken oder entmutigen, indem sie entweder gegensätzliche Ratschläge erteilen oder unausgesprochene Gedanken hegen, die auf deinem Patienten ruhen.“
Jesus beobachtete diese Regel sorgfältig, ehe er die verstorbene Tochter des Obersten der Schule ins Leben zurückrief. Nachdem er den bestürzten Vater ermutigt hatte, sich nicht zu fürchten, sondern Glauben zu haben, ließ Jesus „niemand ihm nachfolgen denn Petrus und Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus.“ Offenbar konnte er sich nicht darauf verlassen, daß die andern, die bei ihm waren, geistig vollkommen mitwirken würden. Sie mögen Zweifel oder Furcht gehegt oder es vielleicht nicht für weise gehalten haben, daß Jesus unternahm, Tote aufzuerwecken. Beachtenswert ist, daß er auch den Vater und die Mutter des Kindes mitkommen ließ. Er blieb vollständig Herr der Lage. Er zögerte keinen Augenblick, und zweifelte nicht an seiner göttlichen Vollmacht. Er war selbst angesichts von Hohn und Spott der Führung Gottes unbedingt gehorsam, und er war erfolgreich. Sein stufenweises Fortschreiten zur vollständigen Heilung schloß die überzeugende Macht der herausfordernden Erklärung des Apostels Paulus vor König Agrippa in sich (Apg. 26, 8): „Warum wird das für unglaublich bei euch geachtet, daß Gott Tote auferweckt?“ Für den Meister war es natürlich, die Allwissenheit Gottes, des Lebens, und die Untrennbarkeit des Kindes Gottes von diesem Leben zu beweisen.
Dann „verbot er ihnen hart, daß es niemand wissen sollte.“ Hier haben wir die warnende Anweisung, die Jesus oft gab, wenn er einen Fall geheilt hatte. Christus Jesus suchte liebreich die neu geweckte geistige Erleuchtung zu schützen. Ehe das Denken auf einem infolge der Heilung höheren, geistigeren Standpunkt fest gegründet ist, können starke Zweifelsucht, Bedenken und Widerstreben das fortgesetzte Erkennen des Christus verbergen. Durch Befolgung dieses liebevollen Rats kann man Umkehrung und den Verlust geistiger Erleuchtung vermeiden, und dem neugewonnenen Sieg über die Materialität Gelegenheit geben, sicher verankert zu werden.
In diesen drei Fällen, wo Jesus des Menschen Unzerstörbarkeit und Einheit mit seinem Vater erfolgreich bewies, finden wir eine Verschiedenheit in Einzelheiten, aber Unverrückbarkeit des Prinzips und der Regel. Durch eine von berufsmäßigem Vorgehen freie Christlichkeit konnte er in geistiger Unmittelbarkeit auf das jeweilige menschliche Bedürfnis eingehen. Es war nicht ein eingeübtes, sondern ein wissenschaftlich wirksames Verfahren, das unfehlbar Erfolg hatte.
Sowenig wie bei Jesu Heilungen gibt es beim christlich-wissenschaftlichen Heilen Formeln. Keine zwei Fälle sind gleich. Ein geistiges Folgern, das in einem Fall anwendbar ist, mag in einem andern Fall für dieselbe oder eine andere Person nicht genügen oder passen, um ähnliche Merkmale zu meistern. Dieses dem einzelnen entsprechende Herantreten an einen Fall fördert das geistige Wachstum. Es bedingt frische Erleuchtung und unmittelbares Gebet. Hierin liegt der Beweis, daß das christlich-wissenschaftliche Heilen das Christus-Heilen ist. Es läßt den Ausüber und den Hilfesucher den Christus besser erkennen. Was in jedem Fall gesagt und getan wird, wird nicht durch die Zustände der Umgebung oder die gedanklichen oder körperlichen Merkmale, sondern durch die Christusidee bestimmt.
Die Christliche Wissenschaft entwickelt in ihren Anhängern diese geistige Fähigkeit, die besonderen Anweisungen Gottes für das Heilen der einzelnen Fälle zu verstehen und sie zu befolgen. Der Meister hat in den hier angeführten drei verschiedenen Fällen ein vollkommenes Beispiel dieser Fähigkeit gegeben, und Mrs. Eddy, die größte geistige Heilerin seit den Tagen der Apostel, hat sie wissenschaftlich erklärt.
