Die Christliche Wissenschaft gründet ihre Folgerung, daß die menschlichen Leiden unwirklich sind, auf die offenbarte Wahrheit, daßGott das unendliche Gute ist und daß das Böse und die Disharmonie nicht einem guten Gott entstammen können. Daher nimmt sie den festen Standpunkt ein, daß die sterbliche Existenz ein selbstgeschaffener hypnotischer Traum ist, der sich selbst mit seinen eignen Wahngebilden bevölkert — ein Traum, der von der Wissenschaft verscheucht wird.
In ihren Schriften macht Mary Baker Eddy es ganz klar, daß das sterbliche Gemüt, nicht der Mensch, der Träumer ist. So erklärt sie zum Beispiel in ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“, (S. 250): „Das sterbliche Dasein ist ein Traum; das sterbliche Dasein hat keine wirkliche Wesenheit, dennoch sagt es: ‚Ich bin etwas.‘ “ Sie fährt fort, ihre Erörterungen zu veranschaulichen, indem sie zeigt, daß der Traum des Schlafs den Sterblichen unberührt läßt, und fügt dann hinzu: „Nun frage ich: Ist mehr Wirklichkeit in dem wachen Traum des sterblichen Daseins als in dem Traum des Schlafs? Das kann nicht sein, denn das, was ein sterblicher Mensch zu sein scheint, ist ein sterblicher Traum.“
Verstehen zu lernen, wie man den Wachtraum verscheuchen und sich so seines wahren Selbst und seiner wahren Sinne bewußt werden kann, ist das grundlegende Problem des Christlichen Wissenschafters. Er weiß, daß er immer wieder beweisen muß, daß die Materie und die Sterblichen nur das Blendwerk eines vergänglichen Sinnes darstellen und daß die wirkliche Substanz zwar unsichtbar doch unvergänglich ist. Eins der wirksamsten Mittel, die Mrs. Eddy uns gezeigt hat, den Sinnentraum auszulöschen, besteht darin, uns klarzumachen, daß die Materie und das Böse keine Wesenheit haben, keine wirkliche Selbstheit. Wenn einer annimmt, daß Sünde oder Krankheit einen Teil von ihm selber oder anderen bilden, so bestärkt er den Anspruch des Irrtums auf Existenzberechtigung, indem er ihm Wesenheit beimißt; er trägt zu der Selbsttäuschnung des Irrtums bei, indem er ihm zustimmt. Doch von dem Augenblick an, wo er aufhört, das Böse als ein Element der Individualität anzusehen, beginnt er, dessen Selbsttäuschung zu untergraben. Die Identifizierung der Sterblichen mit dem Begriff des Menschen ist es, was dem Bösen scheinbar die Macht verleiht, seine angebliche Gegenwart zu verlängern; und diese Identifizierung muß vermieden werden.
Die Trugbilder eines nächtlichen Traumes scheinen Wesenheit zu haben — scheinen zu sprechen, zu leiden, zu klagen, sich zu freuen, sich in eigenartiger Weise zu benehmen. Doch niemand würde diesen Wahngebilden Wesenheit zuschreiben. Sie verschwinden in dem Augenblick, wo der Traum aufhört; denn sie haben nicht mehr Bestand als der Traum, der sie hervorgebracht hat. Das gleiche ist der Fall beim Adam-Traum mit seinen unharmonischen Sterblichen und beständig wechselnden Szenen. Das Überwinden seiner Übel muß davon abhängen, ob wir den Sinnentraum verscheuchen, dem sie innewohnen. Moralische Ehrlichkeit und geistiges Verständnis verleihen uns die Kraft, dies zu tun; denn es ist die Umwandlung des Denkens von einer persönlichen Grundlage zu der des geistigen Verständnisses, was die wahre Wesenheit demonstriert und so den materiellen Traum bricht; und nichts anderes kann dies bewirken.
Die scheinbare Hartnäckigkeit des Traumes ist wohl der Entschlossenheit des Irrtums zuzuschreiben, den Eindruck zu erwecken, daß es sich um viele Träumer handelt, statt um einen einzigen unpersönlichen Traum. Die Annahme, daß das Böse Fleisch geworden ist, daß der Irrtum in der Auflösung konkret in die Erscheinung getreten ist, stattet jedoch das sterbliche Gemüt nicht mit echter Wesenheit aus, sondern nur mit scheinbarer Individualisierung. Es ist immer noch die eine böse, falsche Annahme, — die Umkehrung der Wirklichkeit. Zuzugeben, daß das Einzelwesen ein Träumer ist, bedeutet zuzugeben, daß der Irrtum Wesenheit hat. Zu erkennen, daß nur der Traum träumt, bedeutet, ihn der Wesenheit zu berauben und den Traum zu verscheuchen. Mrs. Eddy sagt in ihrer Predigt „Christliche Heilung“ (S. 11): „Ein Traum nennt sich selbst ein Träumer, doch wenn der Traum vorüber ist, erkennt man den Menschen als gänzlich unabhängig von dem Traum.“
Christus Jesus betrachtete das Böse als etwas Unpersönliches, selbst wenn er den leidenden Sinn erbarmungsvoll behandelte. Beim Heilen wandte er sich oft an den Irrtum statt an den einzelnen Menschen. „Fahre aus, du unsauberer Geist, von dem Menschen!“ sagte er bei einer Gelegenheit (Mark. 5:8); und seine inspirierte Erkenntnis, daß der Irrtum keine Wesenheit hatte, verlieh ihm Macht über ihn.
Wesenheit ist die individualisierte Widerspiegelung des Geistes. In jedem menschenfreundlichen und ehrlichen Gedanken scheint sie durch die äußere Erscheinung eines sterblichen Menschen hindurch. Die menschlichen Wesen sind sich mehr oder weniger ihrer wahren Wesenheit als Menschen bewußt in dem Maße, wie sie die göttliche Natur ausdrücken und aufhören, dem materiellen Sinn Wirklichkeit beizumessen. Doch für das geistige Verständnis ist der Mensch stets völlig und ewig wach. Er besteht nicht aus einem gemischten Bewußtsein, das manchmal wach ist und manchmal schläft, oder das in manchen Punkten wach ist und in anderen schläft — das sich gewisser moralischer und geistiger Werte bewußt, doch für andere, ebenso wichtige, blind ist.
Die Christliche Wissenschaft unterscheidet ganz klar zwischen dem wirklichen Bewußtsein und dem unwirklichen Traumzustand. Sie entlarvt sogar die heimtückische Denkart, die Anspruch darauf erhebt, aufgeweckt zu sein, doch nicht wirklich wach ist — die angeregt und lebhaft ist in persönlicher Munterkeit, doch in dem tiefen Schlaf der hypnotischen Täuschung befangen, daß die Materie und die körperliche Persönlichkeit wirklich sind und Befriedigung geben können. Das Wort des Meisters (Matth. 6:23): „Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!“ kann wohl auf solche Fälle angewendet werden.
Jesu Fähigkeit, wach zu bleiben im Bewußtsein des Geistes und der geistigen Schöpfung, machte es ihm möglich, auch für andere den Sinnentraum zu verscheuchen. In jedem Fall, den er heilte, wurde ein gewisser Grad geistiger Widerspiegelung enthüllt. Mehr vom wirklichen Menschen trat in Erscheinung — Reinheit wurde natürlich, Hingabe an den Christus wurde offenbar, Gesundheit bekundete sich, geistiges Verständnis erschien. Diejenigen, die er nicht heilen konnte — seine Gegner und Verfolger — stellten die hartnäkkige Weigerung des sterblichen Traumes dar, seine falsche Identifizierung, seinen Anspruch auf ein persönliches Ich aufzugeben. Mrs. Eddy definiert diesen Gemütszustand in ihrem Werk „Miscellaneous Writings“ (Vermischte Schriften, S. 363), wo sie sagt: „Das ‚Ich‘, das Selbstheit im Irrtum beansprucht und sich vom Molekül zum Affen und vom Affen zum Menschen entwickelt, ist kein wahres Ich, sondern nur die Annahme, daß die Abwesenheit des Guten Gemüt ist und Menschen erschaffen kann — wenn sein größer Schmeichler, die Wesenheit, sich von Ihm beleidigt fühlt, der die Eitelkeit Nichtigkeit, und den Staub Staub nennt!“
Das göttliche Gemüt beleidigt das falsche Ich dadurch, daß es das eine unendliche Ego ist. Der Wissenschafter, der im Menschen die Widerspiegelung des einen Ego sieht, weigert sich damit, der materiellen Persönlichkeit zu schmeicheln, sie zu rechtfertigen, ihre Eitelkeit zu unterstützen oder ihr angebliches, böses Wesen zu entschuldigen. Er erkennt die Stimme des Irrtums und weigert sich, seinem Ruf Folge zu leisten. Er erkennt jede Phase der Sterblichkeit als ein Gebilde des einen Traumes und bestrebt sich, die Gegenwart seines wahren Selbst zu demonstrieren, das nie ein Träumer ist sondern als ewiges und vollständiges Bewußtsein von der Unendlichkeit des Gemüts existiert.