Von altersher ist es der Wunsch des menschlichen Herzens gewesen — ob bewußt, ob unbewußt — ein besseres Verständnis von Gott zu erlangen, ein Bewußtsein Seiner Gegenwart, eine tiefe Überzeugung Seines Bestehens. Die Menschen werden im allgemeinen zugeben, daß niemals ein wirklicher Sieg über das Böse errungen worden ist, ohne ein gewisses Verständnis vom Wesen Gottes. Man kann wohl sagen, daß der Prüfstein einer wahrhaft befriedigenden Religion darin zu finden ist, ob sie ihre Nachfolger Gott näher bringt oder nicht. Daß die Christliche Wissenschaft, die von Mary Baker Eddy entdeckte und gegründete Religion, diese Bedingung erfüllt, ist ersichtlich aus der großen Anzahl von Nachfolgern, die erklären, daß sie Gott nie wirklich verstanden, bis sie Ihn durch ein Studium der Bibel in Verbindung mit Mrs. Eddys Schriften fanden.
Eine der Methoden, ein besseres Verständnis von Gott zu suchen und zu finden, wird von unserer Führerin in ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1901 erklärt, wo sie sagt (S. 1): „Als Christliche Wissenschafter suchen wir Gott unserm eigenen Bewußtsein zu erklären, indem wir das Wesen und die praktischen Möglichkeiten der göttlichen Liebe selbst fühlen und anwenden.“ Aus einer eingehenden Prüfung dieser Behauptung geht klar hervor, daß das Suchen nach Gott ein doppelter Vorgang ist: das Erlangen eines Bewußtseins von der Gegenwart der Liebe, und weiter, die Anwendung der praktischen Möglichkeiten der Liebe auf die Angelegenheiten unseres täglichen — sozusagen, das Leben dieser Liebe.
Mrs. Eddy beschreibt diesen Vorgang des Suchens und Findens sogar noch bündiger in der Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1902 (S. 8): „Wenn wir lieben, lernen wir verstehn, daß, Gott die Liebe‘ ist.“ Könnten wir nicht ebensogut sagen: „Wenn wir wahrheitsliebend sind, lernen wir verstehen, daß Gott die Wahrheit ist“, und so fort — und werden so finden, daß der aktive Ausdruck der göttlichen Eigenschaften, die wir mit Prinzip, Gemüt, Seele, Geist, Leben, Wahrheit und Liebe verbinden, dazu beiträgt, unser Verständnis für all diese Synonyme der Gottheit zu vervollkommnen?
Eine Anhängerin der Christlichen Wissenschaft hatte dem Studium des Buchstabens der Wissenschaft viel Zeit gewidmet, in dem Bemühen, ein gewisses Problem auszuarbeiten. Trotzdem konnte sie ein Gefühl der Trennung von dem Guten nicht ganz überwinden. Eines Morgens betete sie besonders innig, um sich Gott näher zu fühlen, und wurde dazu geführt, die oben erwähnten Stellen zu lesen. Dann mahnte sie der Engel: „Du glaubst daran, daß Gott die Liebe ist, und du behauptest, daß der Mensch Sein Ebenbild und Gleichnis sei. Bemühe dich, in allem, was du heute tust, das Ebenbild der Liebe zu sein.“ Also bestrebte sie sich bewußt den ganzen Tag lang, das Wesen der Liebe in jedem Gedanken und jeder Handlung zum Ausdruck zu bringen. Am Ende des Tages fand sie, daß nicht nur ihr Problem gelöst war, sondern daß sie sich der Gegenwart und Macht Gottes voller bewußt war denn seit langer Zeit. Solche Ergebnisse mußten ja unbedingt ihrer innigen Gedankenverbindung mit dem Prinzip und der Liebe folgen; denn dadurch demonstrierte sie wirklich mehr von ihrer eignen wahren Wesenheit — der Wesenheit, die immer mit Gott verbunden ist, und die auf dem Gipfelpunkt vollkommenen Verstehens existiert.
Das Erlangen eines besseren Verständnisses von Gott durch die Widerspiegelung der göttlichen Eigenschaften, ist nicht ein Verfahren, das bei der geliebten Entdeckerin und Gründerin Christlichen Wissenschaft ihren Ursprung hatte. Mrs. Eddys weise Anleitungen für unsern geistigen Fortschritt entstammten ihrer guten Kenntnis der biblischen Gestalten, die sie durch Studium und Inspiration erlangt hatte. Moses, der große hebräische Führer, der die Gerechtigkeit liebte, und dessen sich immer weiter entfaltenden Verständnis von Gott die Kinder Israel ihre Erlösung aus Ägypten verdankten, sehnte sich nach einem höheren Begriff von seinem Schöpfer, als Gott sich ihm offenbarte als: „ICH WERDE SEIN, DER ICH SEIN WERDE“ (2. Mose 3:14).
Immer noch in Zweifel befangen in bezug auf seine eigene Fähigkeit, seinen Landsleuten diese herrliche Offenbarung zu übermitteln, mußte Moses eine Reihe von Prüfungen durchmachen. Als er zuerst seinen Stab niederwarf, sah er, wie seine große Furcht sich als eine Schlange offenbarte; als er jedoch auf Gottes Geheiß die Schlange beim Schwanz faßte, bewies er, daß er Macht über sie hatte. Dann wiederum sah er die Symptome des Aussatzes verschwinden, als er, dem Gebot der Weisheit gehorchend, seine Hand von neuem in den Busen steckte. Mit Bezug auf diese Erfahrung des Moses schreibt Mrs. Eddy in ihrem Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 321): „Durch diesen Beweis in der göttlichen Wissenschaft hatte Gott die Furcht des Moses vermindert, und die innere Stimme wurde für ihn zur Stimme Gottes — die da sprach:, Wenn sie dir nun nicht werden glauben, noch deine Stimme hören bei einem Zeichen, so werden sie doch glauben deiner Stimme bei dem andern Zeichen.‘“ Es war ganz offenbar durch den Ausdruck solcher Eigenschaften wie Liebe, Demut und Gehorsam daß Moses dazu kam, die innere Stimme als die Stimme Gottes zu erkennen. Gerade das Fühlen und Anwenden des Wesens Gottes bei dieser Erfahrung überzeugte ihn von der Allheit und Allgegenwart Gottes und befähigte ihn, in der Kraft dieser Überzeugung vorwärts zu gehen.
Wie oft wird in unserer eigenen Erfahrung die innere Stimme zur Stimme Gottes, wenn wir in lauterem Verlangen der inneren Mahnung der Weisheit folgen und irgendeine Phase des falschen Denkens überwinden. Vielleicht müssen wir einen klareren Begriff von Ehrlichkeit erlangen. Jemand, der den Entschluß gefaßt hat, in all seinem Denken und Handeln absolute Ehrlichkeit auszudrücken, wird bald finden, daß er dadurch ein klareres Verständnis von Gott als der Wahrheit erlangt. Es wird ihm dann leichter, die Ränken des sterblichen Gemüts zu durchschauen, und er entdeckt, daß die Wahrheit immer verfügbar, machtvoll und fähig ist, die falschen Suggestionen des Bösen zu zerstören.
Gleichfalls werden wir uns Gottes als des Lebens besser bewußt, wenn Apathie oder Müßiggang durch rechte Tätigkeit ersetzt wird. Wir verstehen Gott besser als Geist, wenn vergeistigte Beweggründe und Wünsche an Stelle irdischen, materiellen Verlangens treten. In dem Verhältnis, wie wir uns entschieden abwenden von dem Zeugnis der Sinne und die Schönheit und Vollkommenheit der Seele als Charakteristik unseres wahren Bewußtseins annehmen, erfassen wir Gott als Seele. Wenn wir uns weigern, den Begriff eines begrenzten, persönlichen Gemüts als unser eigen anzuerkennen, und beständig die Weisheit und Führung des einen göttlichen Gemüts suchen, erkennen wir das Gemüt als Gott an. Wenn eine jede unserer Handlungen der Richtschnur des vollkommenen Prinzips entspricht und gemäß den unabänderlichen Gesetzen bemessen wird, dann sind wir bereit, Gott als das Prinzin anzuerkennen.
Der Apostel Jakobus hat uns in wenigen Worten seine Regel für das Erlangen eines klareren Begriffs von Gott angegeben. Er sagt: „Nahet euch zu Gott, so naht er sich zu euch“ (Jak. 4:8). Ist diese Methode, sich Gott zu nahen, nicht die gleiche wie jene, die Mrs. Eddy beschreibt als, „das Wesen und die praktischen Möglichkeiten der göttlichen Liebe selbst zu fühlen und anzuwenden“? Wir wissen, daß der Mensch in Wirklichkeit nie Gott näher sein kann, als er schon in diesem Augenblick ist, denn er ist auf ewig eins mit ihm. Doch das menschliche Bewußtsein muß von dem irrigen Denken befreit werden, das diese heilige Tatsache verdunkeln möchte; und dieser Läuterungsprozeß bedeutet ein Sich-Gott-Nähern.
Niemals hat jemand ein klareres Verständnis von Gott besessen als Christus Jesus, noch hat irgend jemand das Wesen der Liebe in seinen Begegnungen mit seinen Mitmenschen beständiger zum Ausdruck gebracht als er. Jesu wunderbare Heilungen waren das Ergebnis seiner praktischen Anwendung der Tatsache, daß Gott die Liebe ist. Seine Auferstehung aus dem Grabe war ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß die Liebe, wenn sie verstanden wird, Macht hat, Vorurteil und Haß zu überwinden. In der Bergpredigt, von der mit Recht gesagt werden kann, daß sie die Ethik des Christentums zusammenfaßt, treibt jede Vorschrift und jedes Geheiß uns an, vorwärts zu streben zu einer volleren Demonstration von Leben und Liebe.
Wenn der heutige Christ bemerkt, daß er nach einem fernen Gott sucht, daß der Begriff von der Allgegenwart und Allmacht des Guten ihm zu weit scheint, um ihn begreifen zu können, dann sollte er damit anfangen, gerade da, wo er ist, die Eigenschaften der Demut, des Glaubens, der Liebe und des Gehorsams zu betätigen. Die Gelegenheiten, die sich im Laufe eines Tages bieten, das Wesen der Liebe zu fühlen und anzuwenden, sind unzählbar. Sie schließen Pünktlichkeit und Rücksichtnahme in unseren Begegnungen mit unsern Mitmenschen in sich, Vergebung für etwaige Unhöflichkeit und Lieblosigkeit, selbstloses Geben, Dankbarkeit und, vor allem, ein beständiges Sehen und Erkennen unseres Brudermenschen, wie Jesus ihn sah, nämlich als den vollkommenen geistigen Menschen.
Durch solch ein praktisches Betätigen der Wahrheit im täglichen Leben wird der Mensch bald finden, daß sein Verständnis so neubelebt wird, daß er erkennt, daß Gott Alles-in-allem ist; und er wird dann diese Tatsache durch die Heilung seiner selbst und anderer beweisen können. Was für eine freudige und lohnende Aufgabe ist es doch, die große Wahrheit von der Allheit der Liebe und dem Nichts des Irrtums — wenn auch nur einmal einen Tag lang — betätigen zu können. In dem Maße, wie der Wissenschafter dies beharrlich durchführt, erweist sich ihm die Wahrheit jener Bibelworte: „Nahet euch zu Gott, so nahet er sich zu euch.“
