Auf einem von der Natur gezogenen Pfade liegt entwurzelt ein alter Baumriese. Eine daran befestigte Tafel erzählt seine Geschichte. Die Inschrift lautet: „Er fiel, weil seine Wurzeln nicht tief genug in den Boden eingedrungen waren.“ Offentsichtlich hatte er ein leichtes Los gehabt. In der Fülle guten, reichen Bodens brauchte er für seine schnelle, üppige Entfaltung nur Wurzeln an der Oberfläche. Überdies genoß er gegen Wind und Wetter den klösterlichen Schutz des tiefen Waldes.
Nicht weit davon entfernt erhebt ein anderer ehrwürdiger Baum seine mächtige Krone. Man ist erstaunt, daß dieser alte Riese alles überleben konnte. Seine Lebensgeschichte ist verschieden von der seines gefallenen Bruders. Mit tiefgehenden Wurzeln, die sich fest wie Eisen anklammern, hat sich dieser Baum ein Jahrhundert lang oder noch länger an der nackten Felswand einer windrissigen, sturmgepeitschten Bergschlucht festgehalten. Obwohl ganz schutzlos, steht er im majestätischen Triumph eines Siegers. Im Kampf mit den Elementen, konnte er den Sturm überstehen, dem sein scheinbar begünstigterer Bruder zum Opfer fiel.
Die Geschichte dieses gefallenen Baumes gemahnt uns an des Meisters Worte an seine Jünger, als er den reichen Jüngling traurig davongehen sah: „Liebe Kinder, wie schwer ist's, daß die, so ihr Vertrauen auf Reichtum setzen, ins Reich Gottes kommen!“
In Gedanken wendet man sich einem andern ehrwürdigen Baume zu, der sieghaft auf einem Bergesgipfel Neuenglands steht, einer majestätischen Eiche, deren inspirierendes Beispiel unsere geliebte Führerin Mary Baker Eddy poetisch verewigt hat. Auf Seite 20 ihrer Gedichtsammlung schreibt sie:
„Mein Leben sei wie das Deine, geduldig und treu;
So stark, um den Stürmen der Zeiten zu trotzen;
So tief in dem Boden der Liebe verwurzelt;
So herrlich im Streben nach himmlischen Höh’n.“
Beim Überdenken ihres großen, siegreichen Lebens, freut man sich, daß ihr Gebet in solch reichem Maße erhört wurde. Der Grund ist leicht verständlich. Ihr Glaube, ihre Geduld, ihre Stärke im Ringen mit Stürmen, wie noch kein anderer Christlicher Wissenschafter sie gekannt hat; ihre geistigen Siege, die sie zu einem Verständnis erhoben, das seit Christus Jesus kein anderer erlangt hatte — sie alle sind leicht zu erklären. Niemals, auch nicht einen Augenblick, vertraute sie sich dem an, das seine Wurzeln nur an der Oberfläche hält, noch machte sie sich davon abhängig. Sie wurzelte ihr Denken tief in den Boden geistigen Verständnisses. In dieser Weise vorbereitet, und durch ihr Verständnis von der Wahrheit gefestigt, schritt sie vorwärts, so daß, als ihr Werk sich machtvoll erhob, die Stürme der höheren Regionen ihr nichts anhaben konnten, da sie zu tief verankert war.
Ihre Schüler aus den Anfangszeiten, als die Christliche Wissenschaft noch nicht einen solchen Umfang wie heute angenommen hatte, strebten eifrig nach einem Glauben, der so tief im Verständnis verwurzelt war, daß die Stürme der Kritik und Verfolgung, die über sie hinbrausten, ihr himmelwärts gerichtetes Wachstum nur sichern und nicht gefährden konnten. Nach vielen Jahren des Unterrichtens gab Mrs. Eddy die folgende Erklärung ab, die später in „Miscellaneous Writings“ (S. 29) veröffentlicht wurde, und die für die heutigen Christlichen Wissenschafter von großem Interesse ist: „Im Jahre 1867 unterrichtete ich den ersten Schüler in der Christlichen Wissenschaft. Seit der Zeit habe ich von nur vierzehn Todesfällen aus den Reihen meiner ungefähr fünf tausend Schüler gehört.“
Ein solcher Bericht stellt für ihre Nachfolger eine hohe Norm auf. Abgesehen davon fordert auch die gegenwärtige Zeit, daß die einzelnen Schüler, wie die früheren Nachfolger, den Forderungen der Christlichen Wissenschaft an Hingabe, Gehorsam, Wachsamkeit, Pflichttreue und Glauben entsprechen. Für den gegenwärtigen Schutz und das zukünftige Gedeihen unserer Bewegung, ist es eine zwingende Notwendigkeit, daß das geistige Wachstum unserer Bewegung in unsere Denken an erster Stelle steht. Die Christlichen Wissenschafter müssen sich davor hüten, sich von dem Gedeihen und der wachsenden Zahl der Kirchenmitglieder zu der Annahme verführen zu lassen, daß sich darin allein Wachstum und entsprechender Schutz bekunde.
Wachstum ist etwas Geistiges. Unsere Bewegung entfaltet sich nur in dem Maße, wie sich die einzelnen Mitglieder geistwärts entfalten. Um die gegenwärtige Demonstration der Christlichen Wissenschaft über dem äußeren Gedeihen zu halten, ist es nötig, daß die Christlichen Wissenschafter ihr Wachsen sorgfältig überwachen. Die stille Predigt der beiden Bäume sollte sie warnen, mahnen, aufwecken und inspirieren. Reichen sie — das ist die Frage — hungrig und durstig tief hinein in den Boden der Liebe in starkem, kraftvollem Streben nach geistigem Verständnis, oder sind sie träge damit zufrieden, nur die Oberflächenwurzeln auszusenden, um sich genug Gesundheit und Wohlhabenheit zu sichern zu menschlichem Wohlbehagen und gegenwärtiger materieller Befriedigung?
Der Rektor einer Hochschule ermahnte seine Schüler oft, sich täglich Zeit zur Selbstprüfung zu nehmen; ihre Gedanken zu wägen, ihre Worte, ihr Handeln, ihren Idealismus, ihren Ehrgeiz an dem Christus-Maßstab zu messen, um festzustellen, ob sie beständig und standhaft auf dem geraden Weg fortschreiten, der zu ihrem Ziel führt. Auch einem Christlichen Wissenschafter ist ein solches Verhalten anzuraten. Das eigene Denken täglich zur Rechenschaft zu ziehen, die innere Einstellung, die Beweggründe und Ziele, das eigene Streben zu beurteilen, wird einem entweder ein starkes Gefühl des Vertrauens, der Kraft und der Freudigkeit bringen, oder es wird zur Überlegung zwingen, das Denken anregen und das bewußte Streben in bessere Bahnen lenken.
Es ist ratsam, sich oft mit einigen der folgenden Fragen auseinanderzusetzen: Wende ich die Christliche Wissenschaft an, um menschliche Befriedigung oder um geistiges Wachstum zu erlangen? Strebe ich durch sie danach, Wohlhabenheit, allgemeine Beliebtheit, Macht, Stellung, Intellekt oder andere materielle Dinge zu erreichen, oder bestrebe ich mich, ein solches Verständnis von Gottes geistigen Ideen zu gewinnen, daß ich in ihnen meine Substanz und Harmonie finde, selbst wenn die menschlichen Zustände sich verändern sollten? Bemühe ich mich, die scheinbare Behaglichkeit und Freude einer friedlichen menschlichen Existenz zu erreichen oder einen solch beweisbaren Begriff von dem Frieden und der Harmonie des Himmelreiches zu erlangen, daß ich mich im Notfall triumphierend über den Sturm der sterblichen Existenz erheben kann, sicher geborgen in einem festen, ruhigen Verständnis vom ewigen Leben? Mache ich mich in meinem Wohlergehen von andern abhängig oder verlasse ich mich auf Gott?
In jedem bewußten Augenblick denken, erörtern, wählen und entscheiden wir. Wenn menschliche Methoden in der Waage des Denkens das Übergewicht haben, dann mögen vielleicht die menschlichen Erfolge geschwind und üppig sein, bis die Stunde kommt, da die Oberflächenwurzeln dem Gewicht der materiellen Bürde nicht mehr gewachsen sind. Wenn andererseits unser beständiges Beten ist: „Hirte mein, zeige mir, wie ich soll geh'n“ (Gedichte, S. 14) so wird die göttliche Inspiration uns so führen, leiten, reinigen und zurechtweisen, und das demütige, empfängliche Herz so aufrichten, daß die Wurzeln, auf denen diese Entfaltung fußt, stark und tiefgehend genug sein werden, so daß weder Erfolg beunruhigen, noch Trübsal das siegesgewisse Vertrauen auf das Göttliche und Ewige nehmen kann.
Die erstere Haltung einnehmen, bedeutet den Versuch, die Christliche Wissenschaft um materiellen Erfolges willen anzuwenden; den letzteren Kurn einschlagen, bedeutet, in wissenschaftlicher Weise ihre ewigen Wahrheiten zu demonstrieren. Das Erlangen von Wohlstand, Stellung, Macht, allgemeiner Beliebtheit oder körperlichem Wohlbefinden bedeutet nicht an sich eine Demonstration der Wahrheit im Sinne der Christlichen Wissenschaft. Diese Dinge sind materiell und zeitlich, während Wahrheit der allüberall gegenwärtige, ewige Geist, Gott, ist. Da Gott weder die Materie geschaffen, noch den Menschen materiell gemacht hat, oder ihn von materiellen Zuständen abhängig macht, können die Kundwerdungen materieller Verbesserungen in sich selbst noch nicht christlich-wissenschaftliche Demonstrationen genannt werden. Es ist sogar möglich, daß sie Resultate einer inneren Haltung sind, die das gerade Gegenteil von den reinen Lehren der Christlichen Wissenschaft darstellt, wie Geiz, Götzendienst, falschen Ehrgeiz, Furcht, Stolz, Selbstsucht, Herrschsucht, Ungerechtigkeit oder selbst Unehrlichkeit, und sie mögen uns sogar dazu bringen, auf falsche Werte zu vertrauen, und uns zur Selbstverherrlichung an Stelle der Anbetung Gottes verführen.
Eine christlich-wissenschaftliche Demonstration ist mental und geistig. Es ist die bewußte Erkenntnis Gottes, durch die Seine Gegenwart, Macht, Allwissenheit, Güte und Liebe kundwerden. Eine solche Demonstration ist bleibend und ewig, völlig getrennt von Ort, Zeit oder Umständen. Die wahren Begriffe, die im menschlichen Bewußtsein gewonnen und festgehalten werden, kommen unweigerlich als menschliches Wohlergehen zum Ausdruck. Wer die Beweise der Christlichen Wissenschaft erbringt, drückt ganz natürlich mehr menschliche Liebe, Intelligenz, Gesundheit, Harmonie, Vertrauenswürdigkeit, Güte und Weisheit aus, wodurch er sich als ein wertvolleres Mitglied der menschlichen Gesellschaft erweist — nötiger, gesuchter, höher geschätzt und besser belohnt. Diese Dinge sind jedoch Folgeerscheinungen einer Demonstration, und dürfen nicht mit der Demonstration selbst verwechselt werden.
Die Christliche Wissenschaft um der Brote und Fische willen suchen, und nicht um der Demonstration der Wahrheit willen, ist ein Akt der Unwissenheit. Wer die Spreu behält und den Weizen fortwirft, mag vielleicht seine menschlichen Maße füllen und so seine materielle Last vergrößern, wird dabei jedoch völlig unfähig sein, seinen menschlichen Bedarf zu decken. Die Demonstration von der Wahrheit des Lebens belebt und erhebt das Denken zu einem harmonischeren, gesünderen Bewußtseinszustand. In natürlicher Weise heilt sie Krankheit, lindert sie Leiden, überwindet sie Sünde, regt sie zu Tätigkeit an, verhütet sie Unfälle, verhindert sie Anstekkung, beseitigt sie die Furcht und besiegt sie den Tod. Dies sind jedoch nur Begleiterscheinungen der Demonstration von der Wahrheit des Lebens, das fortlaufend, vollkommen, harmonisch und ewig ist.
Die Demonstration der Christlichen Wissenschaft führt zur vollständigen Vergeistigung des Denkens, so daß es tief im geistigen Verständnis verankert wird. In dem Maße, wie diese Art Tätigkeit die Oberhand gewinnt, werden die heutigen Christlichen Wissenschafter damit fortfahren und die wunderbaren Demonstrationsberichte ihrer Führerin noch erweitern; das allgemeine Annehmen der Wahrheit wird die Demonstration und ihre Kundwerdungen noch steigern, anstatt die Christlichen Wissenschafter in den Zustand gleichgültiger, träger Zufriedenheit einer bequemen menschlichen Erfahrung einzulullen.
So werden die aufrichtigen, heutigen Christlichen Wissenschafter den Wachtposten auf jenem Berge als eine Lektion empfinden. Sie wissen, daß alles wahre Wachstum das Ergebnis treuen, geduldigen Strebens ist. Sie wachen darüber, ob auch sie „herrlich streben nach himmlischen Höh'n“. Treu und geduldig folgen sie dem Antrieb von oben zu höheren, reiferen Errungenschaften und sind gleichzeitig darauf bedacht, daß das Wachsen ihrer Wurzeln ihrem Aufwärtsstreben entspricht, auf daß ihre Leistungen im Boden geistigen Verständnisses tief eingewurzelt sein mögen. Sie wissen, daß sie dadurch fest und mutig stehen können, im Sonnenschein und im Sturm, in Frieden und in beständiger Harmonie.
