Was für ein wunderbares Wort ist Liebe! Doch wie verschieden sind unsere Begriffe davon. Der materiell Gesinnte mag Liebe für ein Gefühl der beiden Geschlechter zu einander halten, das glücklich oder unglücklich macht, je nachdem es Erwiderung findet. Tatsächlich ist diese Art Liebe keine wirkliche Liebe, sondern lediglich eine falsche Auffassung davon und daher eine vollständige Umkehrung wahrer Liebe.
Die wahre Liebe ist keine materielle Empfindung, sie ist eine geistige Eigenschaft des Menschen, des Ebenbildes Gottes. Sie ist der Ausdruck Gottes, der selbst Liebe ist. Ja, Gott ist Liebe; und da der Mensch die Idee Gottes ist, ist er mit Liebe ausgestattet. Gottes Liebe wird durch ihn widergespiegelt; in der Tat, der Mensch ist das wahrhaftige Bild und Gleichnis der göttlichen Liebe.
Im Gegensatz zu dem falschen Begriff von Liebe, ist die echte Liebe selbstlos. Sie denkt nicht daran, selbst geliebt zu werden; sie möchte nur lieben. Wie die Sonne ihre Strahlen aussendet und jeden bescheint und erwärmt, der in ihren Lichtkreis kommt, ob er es verdient oder nicht, so erwärmt die göttliche Liebe alle unparteiisch. Wie Christus Jesus, unser Meister, sagte (Matth. 5:45): „Er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ So strömt der gottähnliche Mensch Liebe aus, ob sie erwidert und geschätzt wird oder nicht.
Diese Liebe denkt überhaupt nicht an sich selbst. Dazu hat sie keine Zeit, da sie beständig segnet und sich bereit hält, ja darauf wartet, segnen zu können. Liebe kann nicht tatenlos sein; würde sie sich nicht ausdrücken, so wäre es keine Liebe. Wenn Liebe der innerste Beweggrund zu allem Tun ist, dann bringt sie dem Empfänger wie dem Geber Segen. Zu glauben, man könne auf Kosten eines andern profitieren, man könne aus dem Unglück eines andern Nutzen ziehen, ist eine moralische Torheit. Wie in der Komposition einer Fuge das Thema über den verschiedenen melodischen Bewegungen erklingt, und die anderen Stimmen immer wieder dem Thema weichen, so sollte Liebe unser Thema — unser Leitmotiv — sein, das uns in unseren mannigfachen Aufgaben des täglichen Lebens charakterisiert und zu dem wir immer wieder zurückkehren.
Herrlich erklingt das hohe Lied der Liebe im 1. Korinther Brief, im 13. Kapitel: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit; sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles.“ In diesem Kapitel wird auch liebloses Handeln scharf verurteilt. Es ist ohne das Gefühl wahrer Zufriedenheit, ohne lebenspendendes Element. Je stärker das Leitmotiv der Liebe in unserem Leben erklingt, umso vollständiger und schöner ist die Veränderung, die mit diesem Leben vor sich geht. Das Böse, das Gemeine beunruhigt weniger, denn man bemüht sich, nichts Böses zu denken, und es immer weniger als eine Wirklichkeit und eine Macht anzusehen. In dieser Weise beginnt man, etwas von der Allheit Gottes, des Guten, der Allgegenwart Seines Reiches, des Reichs der Liebe, zu erkennen.
Wer lieben möchte, kann das Böse nicht als Wirklichkeit behandeln, weder eine böse Person, eine schlechte Handlung oder eine verletzende Tat. Man muß den Blick beständig auf Gott, Geist, gerichtet halten, auf die geistige und vollkommene Natur des Menschen und des Universums, auf die Dinge, die wirklich sind und auf ihre harmonische Beziehung zueinander. Denn nur dann kann man seine Mitmenschen lieben: den Hausgenossen, den Nachbarn, den Mitarbeiter, den Kunden, den Familienangehörigen. Ja, selbst unsere scheinbaren Feinde müssen wir lieben, wie es unser Meister gebot. Wenn Liebe uns erfüllt, dann wird das Leben schön. Wenn es auch zuweilen schwer erscheint, so wird es doch in dem Verhältnis leichter, wie wir den Menschen als das vollkommene Bild der Liebe erkennen und im täglichen Leben das Licht der Wahrheit und Liebe widerspiegeln, das die Wolken des sterblichen Sinnes vertreibt.
Darum laßt uns lieben — immer mehr lieben. Wir können es, denn Liebe ist das Urwesen unseres wahren Seins. Möge Gottes Liebe die Finsternis der Selbstsucht, des Hasses, des Neides, der Habsucht durchdringen, bis sie schließlich in das Nichts aufgelöst ist, aus dem all das scheinbare Böse hervorgeht. Denn in Wahrheit ist Gott Liebe, ist Er Alles-in-allem. Mary Baker Eddy erklärt in „Miscellaneous Writings“ (Vermischte Schriften, S. 12): „In der Christlichen Wissenschaft erfreut das Gesetz der Liebe das Herz, und Liebe ist Leben und Wahrheit.“ Und sie fährt fort: „Wir sollten unsere Liebe zu Gott an unserer Liebe zum Menschen messen; und unser Verständnis von der Wissenschaft wird gemessen werden an unserem Gehorsam Gott gegenüber, indem wir das Gesetz der Liebe erfüllen, allen Gutes tun, allen im Bereich unseres Denkens Wahrheit, Leben und Liebe mitteilen, soweit wir sie selbst widerspiegeln.“
Nur wo Liebe regiert, gibt es wahres Leben, Fortschritt und Aufbau. Nur wenn wir die Liebe ausdrücken, die mit ihrer erbarmenden Fürsorge die Elenden tröstet, den Armen hilft und ihren Segen gleichmäßig auf alle ausströmt, können wir das Himmelreich, die Harmonie auf Erden aufrichten, deren Grundton ist (Luk. 2:14): „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.“