Man hört zuweilen den Ausdruck des Erstaunens, daß die Christliche Wissenschaft als eine Religion so großen Wert auf das Heilen von Krankheit legt. Tatsächlich nehmen viele die herkömmlichen Lehren an und glauben, daß Religion und Krankenheilung nichts miteinander zu tun haben. Und doch beschäftigt sich das religiöse Denken immer mehr mit dem sogenannten Problem des Heilens. Es ist unbestreitbar, daß Jesus seine Lehren auf die Grundlage des Heilens aufbaute. Bei verschiedenen Gelegenheiten zeigte er, daß wahrer Gottesdienst weit mehr im Heilen eines Kranken besteht, als im strengen Einhalten des Sabbats.
Wir müssen uns jedoch absolut klar darüber sein, daß die Christliche Wissenschaft, wenn sie auch dem Christentum das ursprüngliche und wesentliche Element des Heilens wiedererstattet, doch in keiner Weise die Religion mit materieller Medizin vermengt oder verwirrt; noch verdammt sie diejenigen, die andere Heilmethoden anwenden. Die Christliche Wissenschaft macht einen klaren Unterschied zwischen dem christlichen Heilen göttlicher Natur, das in aller Ewigkeit unverändert bleibt, und den verschiedenen Arten von Heilsystemen, die menschlichen Ursprungs und daher veränderlich sind. Während der Jünger des Äskulap das körperliche Heilen zum eigentlichen Ziel und Zweck macht, sieht Jesu von Nazareths Jünger darin nur den natürlichen Vorgang der Vergeistigung des menschlichen Bewußtseins.
Für den Christlichen Wissenschafter ist das Bewußtsein, nicht der materielle Körper, grundlegend. Und das Bewußtsein ist nicht im Körper, sondern der Körper ist im Bewußtsein eingeschlossen. Mit andern Worten, der Körper ist nicht imstande, aus sich selbst etwas kundzutun; er drückt einen Bewußtseinszustand aus. Die Christliche Wissenschaft definiert Gesundheit als das absolute Bewußtsein der Harmonie oder das Bewußtsein der vollkommenen Einheit des Menschen mit seinem Urquell, dem ursprünglichen, ewigen, erhabenen und allerhohchsten Guten, das Gott selbst ist; während Krankheit ein unharmonischer Bewußtseinszustand ist, ein Gefühl der Disharmonie, der Trennung des Seins von seinem Ursprung, eine Art Unkenntnis, ein Vergessen des Guten.
Ein pharmazeutisches Produkt mag vielleicht vorübergehend die körperlichen Kundwerdungen dieses irrenden Bewußtseins aufheben oder mildern, doch niemals kann die Medizin das wahre Bewußtsein des Seins wiederherstellen. Man mag vielleicht sogar behaupten, man könne das Individuum zeitweilig seines Bewußtseins berauben, indem man ihm ein Betäubungsmittel verabreicht; doch eine Einspritzung oder das Aufnehmen eines medizinischen Heilmittels kann niemals das Bewußtsein der Einheit mit dem Schöpfer erzeugen. Das Bewußtsein von der Wirklichkeit des Seins kann nur durch das Wirken eines geistigen und göttlichen Elementes hervorgebracht werden. Dieses Element ist der Christus.
Der Christus ist im wesentlichen die unpersönliche Kundwerdung der Wahrheit des Seins oder der göttlichen Kraft, die von Gott kommt und im menschlichen Bewußtsein wirksam ist. Das jahrhundertelange Annehmen einer vermenschlichten und persönlichen Auffassung von Gott, anstatt eines geistigen Begriffes, und der anerzogene Glaube an die Person Jesus von Nazareth weit mehr als an den unpersönlichen Christus, dessen wiederbelebendes Wirken Jesus bewies, haben leichtgläubiges, oft abergläubisches Festhalten an menschlichen Heilern begünstigt und gefördert, anstatt eines vernunftgemäßen Vertrauens auf ein verständliches, göttlich gutes, gerechtes und allerhabenes Prinzip.
Durch eine klare Unterscheidung zwischen Jesus, dem Menschensohn, und Christus, dem Gottessohn, erklärt Mary Baker Eddy das Zusammentreffen des Göttlichen und Menschlichen, wie es in der Kundwerdung des Christus durch den menschlichen Jesus veranschaulicht wurde. Gleichzeitig macht sie uns die Lehren und das Beispiel unseres Meisters verständlich und befähigt uns, ihnen zu folgen.
„Das Fleisch“ ist der objektive Zustand des materiellen Sinnes. Die biblische Erwänung der Tatsache, daß Elia zuvor kommen und alles zurechtbringen solle, bezieht sich auf die Herrschaft des geistigen Sinnes über den materiellen Sinn, eine Herrschaft, die erkannt und bewiesen werden muß, ehe weiterer geistiger Fortschritt erlangt werden kann. Eine der Schriftstellen, die durch eine wörtliche Auslegung am meisten verdunkelt wurde, ist (Joh. 1:14): „Das Wort ward Fleisch.“ In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ gibt Mrs. Eddy die wahre Bedeutung dieser Stelle und sagt (S. 350): „Die göttliche Wahrheit muß sowohl an ihren Wirkungen auf den Körper, als an ihren Wirkungen auf das Gemüt erkannt werden, ehe die Wissenschaft des Seins demonstriert werden kann.“
Diese Erklärung zeigt, daß die Christliche Wissenschaft das körperliche Heilen als einen unentbehrlichen Schritt ansieht zum Erlangen jener vollkommenen Abgeklärtheit des Daseins, die man gewöhnlich Himmel nennt. Erstaunlicherweise betrachten die jetzt herrschenden Lehren und Theorien — angesichts der Unzulänglichkeit materieller Mittel zur Überwindung materieller Gebrechen — den Tod als das einzige Mittel, um den Zugang zur Unsterblichkeit zu erlangen, zu dem Frieden der Seele, der ewigwährenden Harmonie.
Der Ausdruck „Sterbliche“ bezeichnet nur eine Personifizierung des Glaubens an die Existenz der Materie. Der Vorgang des Todes zerstört weder diesen falschen Glauben noch die ihn begleitende Annahme der Krankheit. Niemand kann sich der Materie entziehen; früher oder später muß dieser falsche Sinn der Harmonie weichen. Die körperliche Heilung ist daher christlich unumgänglich. Für den Christus gibt es keine unheilbare Krankheit. Alle können — und religiös gesprochen müssen alle — unermüdlich Heilung suchen und sie als die folgerichtige Erfüllung des göttlichen Willens erwarten. Der Prophet erklärte (Mal. 3:20 [2]): „Euch aber, die ihr meinen Namen fürchtet, soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit und Heil unter ihren Flügeln.“
Diese Suche nach Heilung kann nicht von Selbstsucht eingegeben werden, noch kann Selbstsucht dadurch ermutigt werden, denn nur durch das Aufopfern des sterblichen Selbst kann Heilung erlangt werden. Die Heilung ist nur eine Phase der Vervollkommnung menschlicher Zustände. Und die Vervollkommnung menschlicher Zustände ist nur das Zeichen einer vergeistigteren Daseinsauffassung. Somit ist die körperliche Heilung nicht der Hauptzweck des Christentums, aber sie ist ein unentbehrlicher Teil der Erlösung — des endgültigen Ziels aller Religion.
Im wahren Christentum ist Gesundheit untrennbar von Heiligkeit. Es kann keine kranke Heiligkeit geben. Der Glaube an Krankheit ist ein Glaube an das Böse. Es ist bezeichnend, daß in Jesu Zeiten Krankheit einem Teufel verglichen wurde. Erlösung kann nur vollständige Befreiung von jeder Annahme einer Gott, dem Guten, entgegengesetzten Macht bedeuten. Die göttliche Allmacht muß erkannt werden „auf Erden wie im Himmel“ (Matth. 6:10), in der Sphäre des menschlich Relativen wie in der des geistig Absoluten. „Bringet her dem Herrn die Ehre seines Namens.. .. Es freue sich der Himmel, und die Erde sei fröhlich; und man sage unter den Heiden, daß der Herr regieret“ (1. Chron. 16:29, 31).
Es ist das Amt des Christus als der Idee Gottes, im menschlichen Bewußtsein Harmonie wiederherzustellen. Diese Wiederherstellung wird nur erreicht durch die spontane Zerstörung und Unterordnung des disharmonischen materiellen Augenscheins unter die Wahrheiten der Wissenschaft.
Der Gründer des Christentums hat uns den Weg gewiesen mit dem Heilen der Kranken, dem Auferwecken der Toten und der Wiederherstellung seines eigenen Körpers nach seinem scheinbaren Tode am Kreuz. Die Menschen trachteten danach, Jesus zu töten, er aber bewies die Fähigkeit, die ihm von der Macht des Christus, der Wahrheit, verliehen war, dieses Trachten und dessen sogenannte Folgen null und nichtig zu machen.
Mrs. Eddy schreibt über Jesus von Nazareth (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 217): „Er verlangt nicht, daß der letzte Schritt zuerst getan wird. Er kam nicht in die Welt, um das Gesetz des Seins zu zerstören, sondern um es in Gerechtigkeit zu erfüllen. Er gab dem kranken Körper seine normale Tätigkeit, Funktion und Struktur wieder und als Erklärung seiner Taten sagte er:, Laß es nun also sein! also gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.‘ Hiob sagte:, [Ich] werde in meinem Fleisch Gott sehen.‘ Weder das Alte noch das Neue Testament gibt uns Beispiele oder Begründungen für die Zerstörung des menschlichen Körpers, wohl aber für dessen Wiederherstellung zu Leben und Gesundheit als wissenschaftlichen Beweis des, Gott mit uns‘.“ Und weiter sagte sie: „Der geistige Körper, die unkörperliche Idee, erschien mit der Himmelfahrt.“
Das wahre Verstehen, daß Heilen ein notwendiger Bestandteil der Religion ist, hilft auch, es zu vollbringen. Wenn wir anfangen zu erkennen, daß die Heilung kein Ziel an sich ist, sondern das in Erscheinung getretene bessere Verständnis von der Identität des Menschen, dann wird es leichter, das Denken von dem körperlichen Zustand hinweg und auf Gott hinzulenken. Nur wenn der Gedanke zu Gott hinstrebt, wenn das Bewußtsein den Grund seiner Existenz in der tätigen Widerspiegelung des unendlichen und vollkommenen Seins findet, kommt es zu dem Vorgang, den wir Heilung nennen. Krankheit und Sünde, mentale Schatten, die nur durch das Licht der Wahrheit zerstört werden können, verlieren ihre Wesenheit in der Gegenwart des Göttlichen.
Das Streben, „daß wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei im Maße des vollkommenen Alters Christi“ (Eph. 4:13), wandelt das menschliche Bewußtsein so um, daß es nur noch das bekundet, was von Gott ausgeht.
Das Verständnis von der Wirklichkeit Gottes als Liebe hebt in natürlicher Weise all die Verwirrung auf, der das „Fleisch“ unterworfen ist. Die Harmonie ist der Beweis, daß der Mensch zu Gottes Bild und Gleichnis erschaffen ist, und durch die Widerspiegelung der Liebe im menschlichen Bewußtsein wird gezeigt, daß Gott mit uns ist und daß „das Wort ward Fleisch.“ „Liebe wird schließlich die Stunde der Harmonie bezeichnen, und Vergeistigung wird folgen, denn Liebe ist Geist.“
Wenn die Religion wirklich verstanden wird, dann wird erkannt werden, daß körperliches Heilen von der Erlösung nicht zu trennen ist, und daß es keine andere Grundlage als die religiöse für wahres heilen geben kann.
