Zwei Lebensauffassungen werden zu dieser Osterzeit dargestellt: die eine ist erfüllt mit dunklen Schatten, die andere, lebendig mit großem Licht; die eine ist schmerzlich und von Tränen getrübt, die andre offenbart gewaltige Kraft, Leistung und Sieg.
Wenn man das Neue Testament liest und über das Leben und die Werke Christi Jesu nachsinnt, so wird man sich des geistigen Lichtes und der Herrlichkeit Gottes bewußt, die in den Werken des Meisters Ausdruck fanden und die Schatten der Materialität völlig verscheuchten. Die Berichte der Evangelien hinterlassen in uns nicht den Eindruck, daß das Böse eine Macht ist, sondern vielmehr eine Überzeugung von seiner völligen Unwirklichkeit und folglichen Unfähigkeit, die Wahrheit zu zerstören oder die göttliche Bestimmung des Menschen zu vereiteln.
Alle vier Evangelien verkünden die gleiche Wahrheit, nämlich, daß der Mensch das Kind Gottes ist, daß er einen geistigen ursprung hat, daß er von Gott regiert wird und daß er göttlicher Natur ist. Mary Baker Eddy schreibt in ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 489): „Außerhalb des materiellen Sinnes der Dinge ist alles Harmonie.“ Jesus glaubte nicht an einen materiellen Sinn des Lebens, denn er verstand, daß der Mensch nicht materiell, sondern geistig ist. Er war sich immer seines Einsseins mit dem Vater im Himmel der Seele bewußt. Sein Himmel und seine Erde waren geistig. Ist es verwunderlich, daß der Meister weder Sünde, Krankheit noch Tod fürchtete, da er diese Erkenntnis klar und beständig vor Augen hatte? Im Reich Gottes, in jenen göttlichen Gesetzen, unter denen er lebte, gab es keine Kenntnis des Bösen und keine Macht in dessen zahllosen Drohungen und Suggestionen. Der Meister wurde beständig von diesem Anspruch des Bösen, Macht zu besitzen, angegriffen; doch er bewies, daß er gefeit war gegen seine Versuchungen. Der Apostel Paulus sagt, daß Jesus „versucht [war] allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde“ (Hebr. 4:15), und Jesus selbst bestätigte dies, als er sagte: „Es kommt der Fürst dieser Welt, und hat nichts an mir“ (Joh. 14:30).
Wieviel Macht schreiben wir dem Bösen zu? Wieweit glauben wir, daß es unser Leben, unsere Gesundheit und unsere Bestimmung beeinflussen kann? Wenn der Christliche Wissenschafter anfängt, auf dem Wege der Wahrheit zu wandeln, so erkennt er gar bald, daß ihm Arbeit bevorsteht, um die Ansprüche des Bösen zu widerlegen und zu überwinden; doch diese Aussicht schreckt ihn nicht. Er lernt verstehen, daß die Macht der Wahrheit allwissend ist. Beim Beweisen dieser Tatsache macht er immer mehr Fortschritte, und die Hindernisse, die sich gegen die Freiheit auftürmten und die anfangs fast unüberwindlich schienen, schwinden dahin und sind bald vergessen in der Offenbarung der Gesundheit, Harmonie und Unsterblichkeit.
Wenn wir auch in unserem gegenwärtigen Zustand der Entfaltung abwechselnd durch Zeiten des Sturmes und der Stille, des Lichtes und des Schattens, der Sorge und der Freude zu gehen scheinen, so fühlen wir uns doch niemals verlassen und trostlos, ohne Hoffnung auf augenblickliche Erlösung. Wie drohend eine Lage auch scheinen mag, im Licht des geistigen Verständnisses kann ein sofortiger Wandel eintreten. Schatten setzt das Vorhandensein von Licht voraus; denn wo kein Licht ist, kann es keinen Schatten geben. Unsere Arbeit besteht darin, uns zu vergegenwärtigen, daß wir im Licht der Wahrheit leben, und nicht im Schatten.
In der Christlichen Wissenschaft lernen wir, positive Denker zu werden, unseren göttlichen Ursprung zu verstehen, das Gute zu erheben und die Ansprüche des Bösen zu verringern; und zwar aus dem Grunde, weil Vernunft und Offenbarung die Tatsache bestätigen, daß das Himmelreich nicht weit entfernt, sondern nahe herbeigekommen ist, und daß die Gesundheit, Harmonie und Unsterblichkeit des Menschen unversehrt sind und unberührt von allem, das im materiellen Daseinsbegriff stattzufinden scheint.
Angenommen, ein Arzt sagt einem Patienten, er habe ein unheilbares Leiden. Das Studium der Materie und ihrer sogenannten Gesetze mag zu dieser Diagnose geführt haben. Der Leidende, der nun überzeugt ist, daß für ihn von materiellen Mitteln keine Hoffnung mehr zu erwarten ist, wendet sich von ihnen ab, und das tiefe, natürliche Verlangen nach Erlösung und Heilung findet Ausdruck in aufrichtigem Gebet zu Gott. Durch eine Verkettung von Umständen wird er zur Christlichen Wissenschaft geführt. Das Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit“ wird ihm in die Hände gespielt. Vielleicht hatte er es vorher schon einmal gesehen, doch damals bedeutete es ihm nichts. Jetzt jedoch führt ihn die tiefe Not, in der er sich befindet, zum Erfassen der tieferen Wahrheiten im Lehrbuch. Die Stunde hat für ihn geschlagen, seine Erlösung in der Christus-Wahrheit zu suchen. Er hat den Ruf vernommen und er leistet ihm Folge.
Bis zu der Zeit hatte das sterbliche Gemüt sein Denken beherrscht. Er hatte als wahr angenommen, was auch immer die materielle Geschichte berichtete, welche Umstände auch immer die sterblichen Annahmen darboten. Doch beim Studium der Christlichen Wissenschaft erkennt er nun die Notwendigkeit, eine klare Scheidelinie zwischen Geist und Materie zu ziehen. Er lernt, das Böse als falsch zurückzuweisen und das Gute als Wirklichkeit anzunehmen; und diese Wahrheit ist anwendbar auf jede Lebensphase — Gesundheit, Heim, Kirche und Geschäft.
So beginnt er, nach den Weisungen der Heiligen Schrift, den alten Menschen abzulegen und den neuen Menschen anzuziehen; und nichts kann nun den natürlichen Vorgang der Vergeistigung seines Denkens, der individuellen Auferstehung, aufhalten. Er steht in Gottes Hand, nicht in der des sterblichen Gemüts; und wenn er nicht wieder in frühere Annahmen verfällt, ist sein Fortschritt zur Gesundheit und Erlösung hin gesichert. Das ist eine Lektion, die wir aus der Auferstehung Jesu lernen können. Er hatte Prüfungen zu bestehen, aber er ging nicht darin unter. Er konnte nicht irregeführt werden, selbst nicht von den heimtückischsten Suggestionen des Bösen. Er konnte die geistige Grundlage des Seins nicht verlassen, da er sie als seinen ursprünglichen Daseinszustand erkannt hatte.
Unsere Führerin folgte ihm auf allen Wegen. Auch sie hatte den Geist als die Basis des Seins erkannt. Trotz aller Prüfungen und Versuchungen hielt sie fest am Gesetz Gottes, vergalt Böses mit Gutem, betonte das Gute, widerstand dem Bösen und nahm einen festen Standpunkt für das Prinzip ein, bis sie ihre gottgegebene Aufgabe erfüllt und die Kirche Christi, Wissenschafter, auf den Felsen Christi erbaut hatte. Unsere Führerin lebte der Wahrheit gemäß und bewies sie. In unserer „Auferstehung“ zum geistigen Leben müssen wir ihrem Beispiel folgen. Ein der christlich-wissenschaftlichen Bewegung geweihtes Leben ist ein lebendiger Baustein in der Kirche Christi, Wissenschafter. Zu dieser Osterzeit, wenn wir über die Auferstehung nachdenken, laßt sie zu einer individuellen Auferstehung werden, einer Vergeistigung des Denkens, die durch die Macht des Christus das Nichts des Bösen beweist — und die ewige Allheit und Allgegenwart des Guten.