Im elften Kapitel des Johannes-Evangeliums wird eine interessante Szene geschildert. Maria und Martha, zwei Schwestern, betrauern ihren Bruder, der gestorben ist. Dann kommt die Kunde, daß ihr Freund, Christus Jesus, auf dem Wege zu ihnen sei. Martha erhebt sich und geht dem Meister entgegen, und das nun folgende Gespräch der beiden entfaltet tiefe Wahrheiten, die von jedermann verstanden werden müssen. Martha spricht von der Auferstehung als von etwas, das sich in der Zukunft ereignen wird — „am Jüngsten Tag“. Doch Jesus berichtigt sie. Sich auf den Christus beziehend, die wahre Idee der Gotteskindschaft, sagt er: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe.“
In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ erläutert Mary Baker Eddy dieses bedeutsame Zwiegespräch und schreibt (S. 292): „Wahrheit wird für uns nur dann die, Auferstehung und das Leben‘ werden, wenn sie allen Irrtum zerstört, wie auch die Annahme, daß Gemüt, die einzige Unsterblichkeit des Menschen, vom Körper in Fesseln gehalten, und daß Leben vom Tode beherrscht werden kann. Ein sündiger, kranker und sterbender Sterblicher ist nicht das Gleichnis Gottes, des Vollkommenen und Ewigen.“ Großen Trost finden alle, die durch die Christliche Wissenschaft verstehen lernen, daß der Mensch, das geistige Ebenbild Gottes, im Gemüt anstatt im Fleisch lebt, und daß sein Leben unzerstörbar ist — todlos. Das Kommen und Gehen des Fleisches, scheinbar so wichtig für unsere menschliche Daseinsauffassung, berührt oder beeinflußt niemals in irgendeiner Weise den von Gott geschaffenen Menschen. In Wahrheit besteht jede Identität ewiglich. Christus Jesus demonstrierte die Fortdauer des individuellen Seins des Menschen, als er Lazarus von den Toten auferweckte.
Das Ebenbild des göttlichen Gemüts besteht zugleich mit dem Gemüt. Die Christliche Wissenschaft lenkt uns hinweg von der Betrachtung eines irdischen, von sterblichen Gedanken beseelten Körpers und hin zur wahren Auffassung des Menschen — des unsterblichen Daseinsausdrucks des Lebens. Der Christliche Wissenschafter lernt, den Menschen im Gemüt zu suchen; er lernt, die wahre Auffassung seiner selbst und anderer zu erlangen. Mrs. Eddy sagt (ebd., S. 129): „Wir müssen tief in die Wirklichkeit hineinschauen, anstatt nur den äußeren Sinn der Dinge anzunehmen.“
Um den Menschen als eine Bildung des Geistes wahrnehmen zu können, müssen wir den geistigen Sinn betätigen, ob nun der Mensch, den wir uns bestreben, im rechten Licht zu sehen, im Fleisch gegenwärtig ist oder nicht. Der geistige Sinn wird nicht durch materielle Erscheinungen begrenzt. Christus Jesus weigerte sich, das zu glauben, was er durch die körperlichen Sinne hörte, sah und fühlte, denn er wußte wie trügerisch jene Sinne sind. Seine Selbstaufopferung, die ihm Macht über das Böse gab, entsprach seiner Fähigkeit, das falsche, endliche Bewußtsein, das den Menschen als fleischlich definiert, zurückzuweisen. Seine Auferstehung erfolgte dank seiner uneingeschränkten Bereitwilligkeit, den Menschen nur durch den geistigen Sinn wahrzunehmen.
Wenn ein von uns geliebter Mensch dem Anschein nach gestorben ist, so folgt daraus nicht, daß wir es nun aufgeben sollten, ihn im Gemüt zu suchen. Doch große Vergeistigung des Denkens ist erforderlich, ehe die wahre Auffassung klar und vollständig für uns werden kann. Echte Selbstaufopferung muß stattfinden, ehe die unkörperliche Idee des Geistes aufhört, durch unsere Eindrücke der körperlichen Persönlichkeit verdunkelt zu werden, und wir von der geistigen Auffassung befriedigt sind. Doch der kleinste Schimmer von dem Menschen, wie er in der Wissenschaft verstanden wird, gewährt schon Trost. Unser Trauern ist zu Ende. Die Qualen der Trennung schwinden. Der harte Stein des persönlichen Sinnes — das Festhalten an der Persönlichkeit und das Sehnen nach der menschlichen Gegenwart — ist hinweg getan. Der Auferstehungsmorgen dämmert auf. Des Meisters Frage an Maria Magdalena hat für uns inspirierte Bedeutung (Joh. 20:15): „Was weinest du?“ Im geistigen Licht ist der scheinbare Grund zum Kummer verschwunden.
Vor vielen Jahren verlor ich plötzlich eine mir sehr teure Schwester. Ich stand damals noch am Anfang meines Studiums der Christlichen Wissenschaft, doch meine sofortige Vergegenwärtigung der Tatsache, daß Gott ihr Vater und immerdar bei ihr war, ewiglich ihr Leben erhaltend und ihre vollkommene Identität entfaltend, ließ es nicht zu, daß der Kummer von mir Besitz ergriff. So gewiß war ich mir des Christus, der unsterblichen Wahrheit der Kindschaft, daß ich kein Gefühl der Trennung oder des Verlustes hatte. Nur glückliche Erinnerungen an sie bewegten mein menschliches Denken, und so ist es bis heute geblieben.
Die Christlichen Wissenschafter, die den Menschen als unsterblich und geistig verstehen, haben die Aufgabe, für die Erlösung der Menschheit zu wirken. Sie dürfen sich nicht in einer kummervollen und persönlichen Lebensauffassung tatenlos niederlassen. Sie müssen sich, wie Martha, erheben und dem Christus entgegengehen. Der Traum vom sterblichen Leben kann nur durch das klare Schauen derer zerstört werden, die zu dem Verständnis erwacht sind, daß Leben Geist ist, und daß das Dasein des Menschen ewiglich fortbesteht.
Die geistige Auffassung von Menschen verleiht die Kraft zu heilen, die der von uns erkannten Wahrheit innewohnt. Wenn wir unser Leben der Überwindung der Sterblickeitsannahme widmen — dem Heilen der Leiden und Sünden der Menschheit — dann setzen wir den von uns Geschiedenen das edelste Denkmal. Jede Heilung, die wir vollbringen, trägt zu einer klareren Erkenntnis der Unsterblichkeit des Menschen bei. Die Fähigkeit, echtes Menschentum zu demonstrieren, ist der einzig angemessene Ausgleich, den wir uns für den stillen, leeren Platz an unserer Seite erbitten sollten.
Mrs. Eddy sagt in „Miscellaneous Writings“ (Vermischte Schriften, S. 154): „Es ist die Absicht der göttlichen Liebe, das Verständnis und das Reich Gottes, die Herrschaft der Harmonie, die schon inwendig in uns ist, wieder zu neuem Leben zu erwecken.“ Und sie fährt fort: „Bleibet in Seinem Wort, und es wird in euch bleiben, und der heilende Christus wird wiederum im Fleisch offenbar — verstanden und verherrlicht werden.“ Des Meisters herrliche Bekundungen der Macht wahrer Christlichkeit, um das Fortbestehen des Lebens zu beweisen, trugen sich in einer entlegenen Provinz des römischen Kaiserreiches zu. Seine gewaltigen Leistungen fanden vor den lauten Scharen jener Tage kaum Beachtung. Doch die Kraft, den belebenden Einfluß der Wahrheit auszubreiten, lag innerhalb der Wahrheit selbst. Die unwiderstehliche Macht des Unendlichen brachte die göttliche Idee der Kindschaft zur Geltung, die die Menschheit aus dem tiefen Schlaf des materiellen Daseins erweckt.
Der Christus fährt fort, die Menschheit zum wahren Leben zu erwecken. Die Welt gibt die Gegenwart des Christus, der Wahrheit, zu, der in seiner endgültigen Form als Wissenschaft des Christentums erschienen ist. Ganze Völker werden aufgerüttelt und fangen an, eine höhere Lebensauffassung zu suchen. Diese Wissenschaft gibt die Erklärung für die Unruhe der Menschheit und offenbart den geistigen Weg, der in das wahre Verständnis des Seins emporführt. Auferstehung kommt in die Welt; und die Vergeistigung des einzelnen Denkens spielt eine wichtige Rolle bei dem Erwachen der ganzen Menschheit zu der Wirklichkeit des immer gegenwärtigen ewigen Lebens.
