Die grundlegende Einheit der menschlichen Gesellschaft ist die Familie. Die Familienmitglieder empfangen täglich Stärke und Ermutigung aus der Tatsache, daß sie einander nahe sind, sie empfangen täglich Trost aus der Liebe, die sie füreinander empfinden, und Schutz durch diese Liebe sowie durch die Anerkennung ihrer gemeinsamen Interessen. Die Christliche Wissenschaft würdigt die Familie voll und ganz und hegt eine hohe Wertschätzung für die Schönheit und die tiefe Befriedigung des Familienlebens. Sie erkennt die Verpflichtungen der Liebe an und besteht auf einer freudigen Erfüllung ihrer Forderungen.
Allzuoft jedoch führen gerade die engen Bande des Familienlebens zu einer sich gegen die Außenwelt abschließenden Haltung, die alle jenseits des Familienkreises als Außenstehende oder gar als Fremde betrachtet. Allzuoft macht die menschliche Liebe an der Schwelle des Heimes halt; allzuoft wird das Gefühl des Beschützenwollens innerhalb der Familie überbetont und führt zu einem begrenzten Standpunkt, zu einer begrenzten Anschauungsweise und zu einem Mangel an ausströmender Liebe. Wenn man im Übermaß mit den Seinen beschäftigt ist, so führt das zuweilen zu Gleichgültigkeit gegenüber allen anderen.
Die Christliche Wissenschaft duldet niemals, daß die Liebe zu unseren nächsten Angehörigen zu Begrenzung oder Engstirnigkeit führt und so die größere Liebe zu der menschlichen Familie erstickt. Unsere geliebte Führerin Mary Baker Eddy schreibt (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 58): „Das Heim ist der liebste Fleck auf Erden, und es sollte der Mittelpunkt, wenn auch nicht die Grenze der Neigungen sein.“ Jede Schmälerung der allumfassenden brüderlichen Liebe läßt diese verkümmern und entstellt sie, macht sie unvereinbar mit der wahren Natur der Beziehung des Menschen zu der ganzen Schöpfung Gottes.
Eine Erweiterung unseres Ausblicks, unseres Interesses und unserer Liebe kann nicht ausbleiben, wenn wir durch die Christliche Wissenschaft den von Gott erschaffenen Menschen, seinen Ursprung und die Familie der höchsten Ideen Gottes verstehen lernen, der er angehört.
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß der Sprößling des Gemüts, des Geistes, geistig ist; er zeugt für die Natur seines göttlichen Elterngemütes. Daher ist der Mensch in Wirklichkeit nicht eine physische Wesenheit, denn Gott ist nicht physisch; der Mensch ist ein individuelles geistiges Wesen, gottähnlich in seiner Natur, in seinen Fähigkeiten und in seiner Liebenswürdigkeit. Gott erhält Seine eigene Widerspiegelung; Er ist das Gemüt aller Seiner Kinder, die die wahre Familie der Menschen bilden.
Es bedarf einer unendlichen Familie von Ideen, um einen unendlichen Gott auszudrücken, denn, wie Mrs. Eddy schreibt (ebd., S. 517): „Gott hat zahllose Ideen, und sie alle haben ein Prinzip und eine Elternschaft.“ Obwohl alle diese Ideen das Gleichnis ihres gemeinsamen Elterngemüts sind, stellen Seine Kinder doch die Eigenschaften und die Substanz ihres Vater-Mutter Gottes in einer unendlichen Vielzahl von Identitäten dar, weil jenes Elterngemüt, der Schöpfer aller, alle Individualität umschließt. Dies gibt der Familie der Ideen Gottes eine nie endende Mannigfaltigkeit, Harmonie, Güte, Intelligenz, nie endendes Interesse, nie endenden Charme.
Wenn diese Wahrheit über Gottes Schöpfung verstanden wird, beginnt sich die alte, begrenzte, materielle Vorstellung von Familie zu erweitern. Diese sich erweiternde Anschauung und Liebe entfaltet sich nicht auf Kosten der Liebe, der Freude, der Hingabe und des Verantwortungsbewußtseins, die wir normalerweise für unser Heim und für dessen Bewohner empfinden sollten. Im Gegenteil — da die Liebe von Gott ist, hat sie die Fähigkeit, sich in unendlichem Maße zu erweitern, ohne daß sie ihre Lieblichkeit, ihre Intelligenz und ihre stützende Macht verliert.
Daß Christi Jesu Auffassung von der Familie über die begrenzten Vorstellungen von Blutsverwandtschaft hinausging, ist aus der Antwort ersichtlich, die er gab, als ihm gesagt wurde, seine Mutter und seine Brüder warteten darauf, mit ihm sprechen zu können (Mark. 3:35): „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter." Damit leugnete er jedoch nicht seine Liebe zu seiner Mutter und sein tiefes Pflichtbewußtsein ihr gegenüber. Selbst während der kritischen Augenblicke am Kreuz gab er dem Wunsch Ausdruck, daß Johannes sich ihrer annehmen und sie wiederum Johannes als ihren Sohn annehmen sollte.
Je mehr wir die Unendlichkeit und das gewinnende Wesen der Ideenfamilie Gottes verstehen, desto umfassender wird unsere Liebe zur menschlichen Familie sein. Je mehr wir das Ausmaß unserer tief empfundenen Sympathie für die Menschheit erweitern, desto mehr Gelegenheiten werden sich uns bieten, für die Allgemeinheit nützlicher zu sein und ein interessanteres und befriedigenderes Leben zu führen.
Kein engstirniger Ausblick, kein kärgliches Austeilen brüderlicher Liebe, keine materialistischen Beschränkungen der geistigen Liebe, die wir für die gesamte menschliche Familie hegen sollten, kann den göttlichen Forderungen gerecht werden, die das eine vollkommene, all-liebende Gemüt aller an uns stellt.
Nur seine eigenen Angehörigen zu lieben ist nichts als eine Form der Eigenliebe; es hat nur wenig gemein mit der wahren geistigen Liebe. Unser Interesse, unsere Sympathie und Unterstützung allen vorzuenthalten außer denen, die zu dem kleinen Kreis unserer unmittelbaren menschlichen Familie gehören, heißt in der langanhaltenden Eintönigkeit eines ichbezogenen Daseins zu leben, heißt sich selbst der Freude und der Freiheit zu berauben, die uns aus dem Bewußtsein unserer geistigen Verwandtschaft mit allen Kindern Gottes erwachsen.
Zuzugeben, daß sich unsere Beziehung zur menschlichen Familie auf den Christus, die geistige Wahrheit über den Menschen, gründet, heißt unsere Interessen und unsere Wohlfahrt mit denen der ganzen Menschheit zu identifizieren; dies wird uns veranlassen, nicht nur für unser eigenes Wohlergehen zu arbeiten, sondern für die Erlösung der ganzen menschlichen Familie, und Mittel und Wege zu finden, durch die dieses hohe Ziel in fortschreitendem Maße verwirklicht werden kann.
Im Handbuch Der Mutterkirche (Art. VIII, Abschn. 4) weist Mrs. Eddy in dem „Täglichen Gebet“ auf die Notwendigkeit hin, daß die Liebe der ganzen Menschheit wie auch unsere eigene Liebe bereichert werde. Sie macht dieses Gebet allen Mitgliedern Der Mutterkirche zu einer täglichen Pflicht und zeigt so, welch weitreichende Bedeutung sie der Vergeistigung der Menschheit beimaß, sowie auch der Rolle, die die Christliche Wissenschaft und die Christlichen Wissenschafter dabei spielen sollten. Wenn wir zu den Forderungen erwachen, die uns unsere Dankbarkeit gegen unsere Führerin und unsere Treue zu ihr auferlegen, indem wir diese Satzung getreulich befolgen, so wird uns dies helfen, auch unseren Verpflichtungen gegenüber der ganzen menschlichen Familie gerecht zu werden.
Wenn wir unser Denken durch die Christliche Wissenschaft bis zu dem Punkt erweitern lassen, wo wir die ganze menschliche Familie in unsere Liebe einschließen, dann wird jedes wünschenswerte Merkmal eines normalen Familienlebens für uns erhalten, erweitert und veredelt werden. Die Liebe zu unseren Eltern und der Gehorsam ihnen gegenüber werden nicht nur erhöht werden, sondern sie werden spontan Liebe zu Gott als dem Vater und der Mutter aller und Gehorsam Ihm gegenüber einschließen. Die Liebe zu unseren Brüdern wird zur brüderlichen Liebe zu jedermanns Bruder überall werden. Ichbezogenheit und das ängstliche Verfolgen bloßer Familieninteressen werden durch die allumfassende Liebe gemildert, die sich auf die Erkenntnis von dem einen unendlichen Schöpfer, Gott, und von Seiner unendlichen Familie gründet, zu der wir in Wahrheit alle gehören. Schon ein erstes Erwachen zu dieser befreienden Tatsache wird dazu beitragen, starkes National- und Rassenbewußtsein zu mildern und so den wahren Interessen der ganzen Menschheit zu dienen.
Mrs. Eddy behandelt dieses Thema in erschöpfender Weise, wenn sie schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 470): „Mit einem Vater, nämlich Gott, würde die ganze Familie der Menschen Brüder werden; und mit einem Gemüt, und zwar Gott oder dem Guten, würde die Brüderschaft der Menschen aus Liebe und Wahrheit bestehen und Einheit des Prinzips und geistige Macht besitzen, die die göttliche Wissenschaft ausmachen.“
