Kains Frage (1. Mose 4:9): „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ wird in dem zweiten großen Gebot beantwortet, das Christus Jesus uns gegeben hat (Matth. 22:39): „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.
Christus Jesus ist unser Vorbild, und sein Gleichnis vom barmherzigen Samariter im zehnten Kapitel des Lukasevangeliums veranschaulicht die Charaktereigenschaften, die für des Meisters Leben — ein Leben liebevollen Dienens unter den Menschen — kennzeichnend waren. Dem biblischen Bericht gemäß war der barmherzige Samariter mit dem Mann, der unter die Mörder gefallen war, nicht persönlich bekannt. Der Levit und der Priester waren an dem hilflosen und verwundeten Menschen vorübergegangen, ohne zu verweilen und ihm Hilfe zu leisten. Der barmherzige Samariter hatte menschlich gesehen nichts zu gewinnen, als er innehielt, um dem Fremdling zu helfen, indem er ihm die Wunden verband, ihn in die Herberge brachte und für seine Pflege bezahlte, bis er sich wieder erholt hätte. Der einzige Lohn für seinen liebevollen Dienst war offensichtlich die selbstlose Freude, jemandem in seiner Notlage zu helfen, und er war daher ein echter Hüter seines Bruders.
Dieses Gleichnis zeigt auch in praktischer Weise, wie man ein guter Nächster und ein Hüter seines Bruders sein kann, wo immer man ist. Es ist nicht erforderlich, eine Reise zu machen, um jemanden zu finden, der die liebevollen Dienste eines barmherzigen Samariters benötigt. Zu Hause, in der Schule, im Büro und in jeder Lebenslage gibt es solche, die der Ermutigung, eines freundlichen Lächelns, eines aufbauenden Gedankens und einer Hilfeleistung bedürfen. Das Wirken eines barmherzigen Samariters mag von uns Selbstaufopferung und Selbstverleugnung fordern, aber während wir einem anderen helfen, helfen wir uns selbst. In unserem Bemühen, ein guter Nächster zu sein, schaffen wir unsere eigene Seligkeit.
Zweifellos sprach Christus Jesus zu seinen Jüngern oft darüber, wie nötig es für die Menschen ist, zu lieben und freundlich zueinander zu sein. Im ersten Brief des Johannes hat der Jünger vieles niedergelegt, was der Meister über diesen Gegenstand lehrte, und im 4. Kapitel wird die Frage gestellt: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?“ Im nächsten Vers setzt Johannes sein Thema über liebevolles Dienen mit der Erklärung fort: „Und dies Gebot haben wir von ihm, daß, wer Gott liebt, daß der auch seinen Bruder liebe.“
Die Bibel lehrt, daß Gott, Geist, der einzige Schöpfer ist und daß der wirkliche Mensch, zu Gottes Gleichnis geschaffen, beständig die Eigenschaften der göttlichen Liebe zum Ausdruck bringt. Christus Jesus sah stets den vollkommenen Menschen. Unsere Führerin Mrs. Eddy bezieht sich hierauf, wenn sie im Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit“ (S. 476) schreibt: „Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint. In diesem vollkommenen Menschen sah der Heiland Gottes eigenes Gleichnis, und diese korrekte Anschauung vom Menschen heilte die Kranken.“
Als Nachfolger Christi, der Wahrheit, sollten wir uns gleicherweise bemühen, die geistige und richtige Anschauung vom Menschen zu gewinnen, indem wir unser Denken in Übereinstimmung mit der Wahrheit erhalten, von Liebe für die Menschheit erfüllt, denn nur auf diese Weise sind wir wirklich ein Hüter unseres Bruders. Aus der soeben aus dem Lehrbuch zitierten Stelle ersehen wir die heilende und erlösende Wirkung der göttlichen Liebe, die sich im menschlichen Bewußtsein widerspiegelt. In dem Maße, wie jeder einzelne von uns sein Denken über die anderen vergeistigt und sie als Kinder Gottes anstatt als fleischliche Sterbliche sieht, wird diese Wahrheit der Menschheit heute wahrlich ebenso Heilung bringen, wie es vor fast 2000 Jahren der Fall war.
Wenn wir sehen, wie jemand vom Irrtum versucht wird und nahe daran ist, zu straucheln oder einen falschen Weg einzuschlagen, so sollten wir diese Gelegenheit benutzen, ihm zu helfen oder ihn zu stärken, indem wir unser eigenes Denken über die Angelegenheit heilen. Wir können die Wahrheit bejahen, daß der Mensch das Kind Gottes ist und nicht ein schwacher oder eigenwilliger Sterblicher. Wir können auch wissen, daß Gott Seine Kinder immerdar in den Banden des unwiderstehlichen Gesetzes der geistigen Anziehung zum Guten hält. Unsere Führerin ermahnt ihre Nachfolger, sich der feindseligen Kritik an anderen zu enthalten und einen jeden der berichtigenden und heilenden Wirkung der göttlichen Liebe zu überlassen.
In der Christlichen Wissenschaft verschließen wir die Augen nicht vor dem Irrtum, sondern wir lernen, ihn unpersönlich zu machen, indem wir ihn in unserem Denken von dem Menschen trennen und indem wir wissen, daß der Irrtum eine Lüge über Gottes Allheit und des Menschen Vollkommenheit als Gottes Kind ist. Mrs. Eddy gibt uns viele hilfreiche Gedanken in bezug auf die Notwendigkeit, den Irrtum unpersönlich zu machen. In ihrem Werk „Vermischte Schriften“ finden wir folgende Ermahnung (S. 308): „Ernstlich rate ich allen Christlichen Wissenschaftern, die persönliche Vorstellung von irgendwem aus ihrer Beobachtung oder ihrer Betrachtung auszuschließen und mit dem Gedanken nicht bei der eigenen oder der Körperlichkeit anderer als gut oder böse zu verweilen.“
Wir alle wissen, wie begeistert kleine Kinder Masken tragen, um sich unkenntlich zu machen. Einige Masken sind häßlich oder sehen sogar furchterregend aus, aber wir lassen uns nicht durch sie täuschen, noch halten wir sie für wirklich. Wir wissen, daß hinter der Maske ein allerliebstes, lachendes Kind steckt. Wenn wir uns ungerechter Kritik, Selbstsucht, Neid oder Eifersucht gegenübersehen, wollen wir diese unangenehmen Annahmen ebenfalls als Masken des fleischlichen Gemüts klassifizieren, die den Versuch machen, die wirkliche Individualität des Menschen zu verbergen.
Wenn wir standhaft an der Wahrheit des Seins festhalten und uns weigern, uns durch das Zeugnis der materiellen Sinne täuschen zu lassen, wird es uns leichtfallen, allen Menschen Vergebung, Güte und Liebe zuteil werden zu lassen. Durch diese Haltung sind wir ein guter Nächster und auch unseres Bruders Hüter, denn wir weigern uns, die materielle Vorstellung von ihm als wahr anzunehmen. Unser Bemühen, in jeder Lebenslage Liebe widerzuspiegeln, wird dem, der „unter die Mörder“ des sterblichen Gemüts gefallen ist, helfen, ein Verständnis von der dem Menschen von Gott verliehenen Herrschaft zu gewinnen und richtig zu denken und zu handeln.
Der Christliche Wissenschafter ist ein Weltbürger; in dem Maße, wie er sich daher bemüht, ein guter Hüter seines Bruders zu sein, wird die geistige Kraft der Liebe, die er widerspiegelt, die Welt-Atmosphäre durchdringen und die Unmenschlichkeit, Ungerechtigkeit und Mißverständnisse unwirksam machen und heilen, die da Krieg und Streit erzeugen. Wir sollten jeden Tag mit dem Entschluß beginnen, ein barmherziger Samariter zu sein. Die Welt bedarf sehr derer, die von jener allumfassenden Liebe erfüllt sind, durch die christliche Brüderschaft und Wohlwollen unter den Menschen gefördert werden.
Seid gastfrei untereinander ohne Murren. Und dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes. — 1. Petrus 4:9, 10.