Der Psalmist sang: „Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen und erzähle alle deine Wunder. Ich freue mich und bin fröhlich in dir und lobe deinen Namen, du Allerhöchster“ (Ps. 9:2, 3). Jedoch im 13. Psalm lesen wir: „Herr, wie lange willst du mein so gar vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?“
In diesen gegensätzlichen Empfindungen hält uns die Bibel einen Spiegel vor. Wir sehen darin den menschlichen Begriff vom Leben mit seinem Auf und Ab, wie es sich den materiellen Sinnen darbietet, im Gegensatz zu der geistigen Idee vom Leben. Wenn Dankbarkeit in unserem Herzen eine bleibende Stätte haben soll, müssen wir uns ständig der unvergänglichen Tatsachen des Seins bewußt bleiben und an ihnen festhalten, auch wenn das Zeugnis der Sinne mit diesen nicht in Einklang stehen mag.
Mrs. Eddy schreibt in ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit“ (S. 516): „Der zu Gottes Gleichnis geschaffene Mensch besitzt Gottes Herrschaft über die ganze Erde und spiegelt sie wider. Mann und Weib, die zugleichbestehend und ewig mit Gott sind, spiegeln in verherrlichter Eigenschaft immerdar den unendlichen Vater-Mutter Gott wider.“ Hieraus folgt, daß der Mensch niemals dem Verfall noch äußeren materiellen Umständen unterworfen gewesen ist. Er spiegelt ewiglich die göttliche Herrschaft und Vollkommenheit wider und bringt sie zum Ausdruck. Hier haben wir wahrlich eine Grundlage für unaufhörliche Dankbarkeit.
Aber der mit den Lehren der Christlichen Wissenschaft [Christian Science] nicht vertraute Leser mag fragen: „Wo leitete Mrs. Eddy diese revolutionäre Auffassung vom Wesen des Menschen her?“ Die Antwort lautet: „Aus der Bibel!“ In dem soeben angeführten Zitat läßt sich ein Hinweis auf den Schöpfungsbericht im ersten Kapitel des ersten Buches Mose erkennen, in dem es heißt (Vers 27): „Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“
Die Bibel hat zum Ziel, uns vor Augen zu führen, daß Gott der einzige Gott und Schöpfer ist, allgegenwärtig, allmächtig, allwirkend. Es gibt keine andere, keine widerstreitende Macht, und der gänzlich unberührte Zustand der göttlichen Allheit und ihrer Offenbarwerdung bedeutet Vollkommenheit. Der Mensch, das Bild und Gleichnis Gottes, muß notwendigerweise Ausdruck dieser Vollkommenheit sein — nicht als ein materielles Wesen, das gerade Gegenteil von Geist, Gott, sondern als geistige Offenbarwerdung Gottes.
Diese Tatsachen erhellten das Bewußtsein der Verfasserin, als in einem Gespräch mit einer Freundin die erneute Frische eines lieben Menschen vorgerückter Jahre erwähnt wurde und die Freundin voller Dankbarkeit ausrief: „Ist das nicht wunderbar?“ Die Verfasserin sah, daß es für den Christlichen Wissenschafter nicht das an ein Wunder Grenzende ist, das ihn mit Dankbarkeit erfüllt, sondern das göttlich Natürliche. Was ihn so dankbar macht, ist nicht das Gute, das er als eine Ausnahme wahrnimmt, sondern sein Verständnis von der Vollkommenheit als dem normalen, fortdauernden Zustand des Seins.
Weder Gott noch seine Offenbarwerdung kann sich jemals in einem Zustand der Hinfälligkeit befunden haben, noch wird dies je geschehen können. Wenn diese Tatsachen unser Bewußtsein erfüllen, dann werden die Suggestionen von Krankheit, Sünde und Kummer immer seltener werden, denn sie haben nur die Wirklichkeit, die wir ihnen beimessen. Und selbst wenn diese Übel auf unserem Weg vom Sinn zur Seele — von dem Glauben an ein materielles Dasein zu der vollen Erkenntnis von dem geistigen Dasein des Menschen —, noch das Zepter zu schwingen scheinen, werden sie uns nicht entmutigen, denn sie können nicht unsere Dankbarkeit für die Wahrheit des Seins auslöschen, von der wir einen Schimmer erlangt haben.
Dieses Verständnis hat in dem Leben der Verfasserin eine große Rolle gespielt. Als sie einmal schwer erkrankt war und die Herrschaft über ihre Glieder und ihr Bewußtsein zu verlieren schien, hörte sie ihre Mutter ausrufen: „Gott sei Dank, daß das nicht wahr ist!“ Hinter diesen wenigen Worten stand alles, was die Wissenschaft des Christus sie in bezug auf das wahre Sein gelehrt hatte, und die Verfasserin nahm diese Worte in ihrer ganzen Bedeutung in sich auf. Sie weigerte sich, einen materiellen Sinn vom Leben zu akzeptieren, wie stark auch immer die Einflüsterung war, und begann die inspirierenden Lieder von Mrs. Eddy zu singen.
Zuerst war es wenig mehr als ein Flüstern, aber sie wurde von Minute zu Minute kräftiger, und schließlich war es ein Gesang. Sie fühlte sich dankbar eins mit Gott, der Quelle ihres Seins. So war es nur natürlich, daß Kraft und Freiheit wieder in ihrer Erfahrung zutage traten, die ja in Wirklichkeit niemals aufgehört hatten, in der Gegenwart Gottes zu bestehen.
Es wird im allgemeinen von Dankbarkeit gesprochen, wenn Krankheit der Gesundheit Raum gegeben hat, Sünde und Kummer gewichen sind und nach vernichtendem Krieg die Waffen ruhen. Aber wenn uns Disharmonie wirklich erscheint, können wir Harmonie nicht als unseren ständigen Begleiter erkennen. Wir glauben Mächten ausgesetzt zu sein, die wir nicht verstehen, und wenn sich dann die Ereignisse zum Guten wenden, mögen wir wohl Erleichterung und Freude empfinden; aber das ist keine wahre Dankbarkeit.
Diese Erkenntnis wurde der Verfasserin auf einer Autobusreise zuteil. Erhöhte Reisetätigkeit zu den Weihnachtsfeiertagen hatte einen wichtigen Anschluß in Frage gestellt und die Aussicht auf einen stundenlangen, nächtlichen Aufenthalt in dem unwirtlichen Autobusbahnhof und auf einen verspäteten Dienstantritt in übernächtigtem Zustande am nächsten Tage heraufbeschworen. Als sie dann noch einen Autobus erreichte, der sie mit nur geringer Verspätung an ihr Ziel brachte, sank sie mit einem Ausruf des Dankes in ihren Sitz.
Da kam es ihr in den Sinn: „Ja, bin ich nur erleichtert, oder bin ich tatsächlich dankbar? Und wenn dankbar: wofür?“ Sie gab sich zur Antwort: „Ich bin dankbar für mein wahres geistiges Sein, das nie materiellen Zufälligkeiten ausgeliefert, sondern immer daheim ist bei dem himmlischen Vater — im Bewußtsein der allumfassenden Harmonie.“ Die erreichte Busverbindung war in diesem Lichte sekundärer Natur, obwohl sie ganz gewiß ein Ausdruck der Harmonie war.
In diesem Zusammenhang wurden für die Verfasserin die Worte unseres Meisters Christus Jesus lebendig, die er zu den Siebzig sprach, als sie ihm voller Freude von den Werken berichteten, die sie in seinem Namen getan hatten (Luk. 10:20): „Darüber freuet euch nicht, daß euch die Geister untertan sind. Freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind.“ Die Erkenntnis von dem geistigen Status des wahren Menschen als eines Bewohners des Himmelreiches, des Reiches der Harmonie, ist wahrlich unschätzbar. Mrs. Eddy sagt in ihrem Buch „Vermischte Schriften“ (S. 330): „Paulus schrieb: ‚Freuet euch in dem Herrn allewege!‘ Und warum nicht, da die Möglichkeiten des Menschen unendlich sind, Seligkeit ewig währt und er sich dessen hier und jetzt bewußt wird?“