In ihrem langjährigen Bemühen, die mannigfachen Probleme des menschlichen Daseins zu lösen, hat die menschliche Forschung stets versucht, gewisse physische und mentale Tendenzen von einzelnen Menschen, ihre charakterlichen Veranlagungen usw. auf irgendeine materielle Ursache zurückzuführen. Sie konnte auch gar keine andere Richtung einschlagen, denn ihr Ausgangspunkt war stets die falsche Auffassung, daß die Materie Leben und Intelligenz in sich schließt. Von dem Glauben an die Fortdauer dieses vermeintlichen materiellen Lebens war es nur ein kurzer Schritt für die Forschung zu folgern, daß nicht nur die äußere Erscheinung eines Menschen, sondern auch seine physischen und mentalen Merkmale von einer älteren Generation auf ihn übertragen worden sein könnten.
Die Vererbungslehre erhebt den Anspruch, die physischen, mentalen und moralischen Eigenschaften und Neigungen voraussagen zu können, die jemand wahrscheinlich haben wird oder nicht haben wird. Akzeptierten wir diese Behauptungen, so würde das unsere Gesundheit und den Erfolg und das Glück unseres Lebens erheblich und unnötigerweise beeinflussen.
Von dem geistigen Standpunkt der Christlichen Wissenschaft [Christian ScienceSprich: kr’istjən s’aiəns.] aus betrachtet, ist der Glaube an materielle Vererbung das Ergebnis der im menschlichen Denken tief eingewurzelten Vorstellung, daß materielle Sterbliche wiederum materielle Sterbliche zu ihrem eigenen Bild und Gleichnis schaffen. Wie die Schlange in der biblischen Allegorie, so versucht das sterbliche Gemüt oder der tierische Magnetismus uns dazu zu verleiten, sein bösartiges Anerbieten anzunehmen, indem es dieses Anerbieten unter der Maske des Guten verbirgt.
Wie verführerisch scheint doch im menschlichen Leben die Voraussage, daß ein gewisses Kind sicherlich im Leben Erfolg haben wird, weil es das anziehende Wesen und die Klugheit einiger seiner Vorfahren geerbt hat! Wenn wir aber diese falsche Versicherung akzeptieren, so räumen wir damit gleichzeitig ein, daß andere mit einer weniger vorteilhaften Ahnenreihe es niemals zu einer glücklichen und zufriedenstellenden Lebenserfahrung bringen werden. Die Sterblichen stimmen der Suggestion von der Vererbung guter Eigenschaften bereitwillig zu, erkennen aber nicht, daß sie damit gleichzeitig die Suggestion von der Vererbung schlechter Eigenschaften akzeptiert haben und daher ihren Wirkungen ausgesetzt sind.
Die Christliche Wissenschaft [Christian Science] handhabt die gesamte Annahme von materieller Vererbung in wirksamer Weise, und zwar durch ihre Offenbarung, daß es keine lebendige Materie gibt, die Gesetz und Macht besitzt, sich selbst Fortdauer zu verleihen. Sie lehrt, daß die Materie selbst nichts als die vergegenständlichte Annahme des sterblichen Gemüts ist. Daher hat die Materie, ob in Form eines physischen Körpers oder als der mutmaßliche Sitz des Gemüts, tatsächlich keine ihr gehörenden Eigenschaften, die sie beherbergen oder übertragen könnte. Das sterbliche Gemüt allein überträgt seine eigenen Annahmen. Wenn wir dies verstehen, können wir die Nichtsheit der sterblichen Annahmen der Vergangenheit beweisen und so ihre Verbindung mit der Gegenwart zunichte machen.
Da die Auswirkungen menschlicher Vererbung sich auf mannigfache Weise zeigen und sich unter vielen Masken zu verbergen suchen, ist es natürlich und höchst wünschenswert, daß die Christlichen Wissenschafter den allgemeinen Glauben an materielle Vererbung und seinen bewußten oder unbewußten Einfluß auf das menschliche Denken — ihr eigenes und das anderer — handhaben.
Die Christliche Wissenschaft [Christian Science] hat der Menschheit die wunderbare, befreiende Wahrheit gebracht, daß es außerhalb der gewohnheitsmäßigen sterblichen Annahme keine solche Tatsache wie materielle Vererbung gibt, denn der Mensch ist in Wirklichkeit überhaupt nicht materiell, sondern ein völlig geistiges Wesen, ein individuelles Bewußtsein, die geistige Widerspiegelung oder das genaue Gleichnis Gottes, des ewigen göttlichen Gemüts. Daher hat der Mensch in Wahrheit keine Ahnenreihe, sondern ist der direkte Sprößling Gottes, des einen unendlichen Bewußtseins, und besteht immerdar zugleich mit Ihm.
Der wirkliche Mensch besitzt durch Widerspiegelung die vollkommenen Eigenschaften und Fähigkeiten seines Vater-Mutter Gottes und hat sie immer besessen, und er kann nichts anderes aufnehmen oder ausdrücken. Daher ist er in keiner Hinsicht von dem sterblichen Traum der Materie mit seinen Verstrickungen und Drohungen abhängig, sondern allein von Gott, der göttlichen Liebe. Der Mensch kann nicht von irgendeinem sogenannten Gesetz berührt werden, das beansprucht, dem Fortdauer zu verleihen, was für das sterbliche Gemüt die der Materie angeborenen Eigenschaften und Neigungen zu sein scheinen. Der Mensch besitzt keine Eigenschaft, Veranlagung, oder Neigung, die nicht dazu dient, ihn mit seinem Urquell und einzigen Vorfahren, dem göttlichen Princip, zu identifizierten, und er hat sie nie besessen.
Der wirkliche Mensch — das wahre Sein eines jeden von uns — ererbt, das heißt empfängt durch Widerspiegelung, in zeitloser Fortdauer die vollkommene Intelligenz, Lebenskraft und Gesundheit seines unendlichen Elterngemütes oder Schöpfers, der Seele des Menschen und des Universums. Dieser Vorgang, daß Gott gibt und der Mensch empfängt, hat niemals begonnen und wird niemals enden, denn er ist rein geistig; und er kann durch nichts beeinträchtigt werden.
Als die Jünger vor dem Menschen standen, der blind geboren war, fragten sie den Meister, ob die Blindheit nicht vererbt sein könnte, ob es sich vielleicht um eine für die Eltern bestimmte Strafe handelte, die auf den Sohn übertragen worden wäre. In seiner Erwiderung wies Christus Jesus auf die Unwirklichkeit und Machtlosigkeit der Annahme hin, daß die Irrtümer einer älteren Generation — ihre Sünden oder ihre Strafen — als Wirklichkeiten auf die jetzige Generation übertragen werden können. Er antwortete: „Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“ (Joh. 9:3). Bei einer anderen Gelegenheit bestätigte er — es war dies eine Botschaft des Christus, der Wahrheit — den geistigen Ursprung des Menschen und sein Zusammenbestehen mit Gott, denn er sagte, er sei von Gott gekommen und ginge zu Gott (siehe Joh. 8:42). Bedeutet das nicht, daß der Mensch unabhängig ist vom Bösen und daß die Übertragung von Krankheit oder Sünde infolgedessen unmöglich ist?
Es liegt auf der Hand, daß die wissenschaftliche Verneinung der Ansprüche der materiellen Vererbung unvollständig ist, wenn sie lediglich auf die Symptome der Gegenwart beschränkt wird. Wir müssen zu der klaren Erkenntnis kommen, daß die Irrtümer des sterblichen Gemüts niemals wahr gewesen sind und daß folglich jeglicher frühere Glaube an sie, vielleicht von seiten eines Vorfahren, gleichermaßen falsch war und daher in Wirklichkeit nicht auf die Gegenwart übertragen werden kann. Mary Baker Eddy schreibt (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 178): „Erblichkeit ist kein Gesetz. Die fernliegende Krankheitsursache oder -annahme ist nicht gefährlich aufgrund ihrer Priorität und aufgrund des Zusammenhangs der sterblichen Gedanken der Vergangenheit mit denen der Gegenwart. Die vorbereitende Ursache und die erregende Ursache sind mental.“
Wenn wir zu der Erkenntnis gelangen, daß die irrigen Zugeständnisse der Vergangenheit seinerzeit ebenso falsch waren wie sie es heute sind, dann können wir das Unheil, das sich daraus in der Gegenwart ergeben kann, in wissenschaftlicher Weise verhindern oder ungeschehen machen.
Unter der Randüberschrift „Keine fleischliche Erblichkeit“ faßt unsere Führerin die Lehren der Christlichen Wissenschaft [Christian Science] über dieses Thema zusammen, Lehren, die seit fast einem Jahrhundert in reichem Maße bewiesen worden sind. Sie schreibt (ebd., S. 228): „Die Übertragung von Krankheit oder von gewissen Idiosynkrasien des sterblichen Gemüts würde unmöglich sein, wenn folgende große Tatsache des Seins begriffen würde: daß nichts Unharmonisches in das Sein eindringen kann, denn Leben ist Gott. Erblichkeit ist ein ergiebiger Gegenstand für die sterbliche Annahme, an die sie ihre Theorien heftet; wenn wir aber begreifen lernen, daß nichts anderes wirklich ist als das Rechte, wird es keine gefährlichen Vererbungen mehr geben, und die fleischlichen Übel werden verschwinden.“