„Muss Ich Wirklich, siebzigmal siebenmal’ vergeben, um tolerant zu sein?” fragte ein Sonntagsschüler seinen Lehrer. „Ist denn das so viel?” lautete dessen Gegenfrage. „Auf siebzig Jahre verteilt, heißt das, daß du im Jahr etwa siebenmal vergeben mußt. Christus Jesus meinte sicher keine bestimmte Zahl, Siehe Mt 18:21, 22. sondern vielmehr, daß wir immer — und immer wieder — vergeben sollen.”
„Tolerant sein” wird sehr häufig mit „immer nachgeben” in Verbindung gebracht. Aber hat es wirklich diesen Sinn? Im Wörterbuch von Wahrig finden wir tolerant definiert als „duldsam, nachsichtig, weitherzig, großzügig”. Das könnte bedeuten, daß man vorsichtig ist, wenn man Urteile über andere fällt, und daß man mehr Geduld und Mitgefühl zum Ausdruck bringt.
Das Wort Toleranz hat aber noch eine andere Anwendung, die zusätzliches Licht auf diesen Begriff wirft.
In der Technik ist Toleranz im Zusammenhang mit der Qualitätsarbeit ein sehr wichtiger Begriff. Für Präzisionsmaschinen ist die Genauigkeit auf den Tausendstelmillimeter heute kein Problem. Die Frage ist vielmehr, wieweit diese Genauigkeit notwendig ist. Der Maschinenbauer legt nun die Grenzen der „zulässigen Ungenauigkeit” fest, die für das einwandfreie Zusammenarbeiten eingehalten werden müssen. Jedes Teil hat damit seine eigene Toleranz, doch wenn man diese Angaben nicht einhalten würde, könnte die Maschine ausfallen und so ein Unfall (oder Schaden) und ein Verlust in Form von Zeit und Geld verursacht werden. Je nach den Umständen könnte heute jemand auch für einen solchen Fehler seine Arbeitsstelle verlieren.
Im Epheserbrief wird ein Gedanke festgehalten, der mit dem technischen Begriff recht eng in Verbindung steht, ein Gedanke, der uns den wahren Sinn von Toleranz näherbringt. Der Verfasser spielt dort auf das Zusammenwirken aller Teile innerhalb des Ganzen an, für das ja deren Eigenschaften maßgebend sind. Er schreibt, daß wir wachsen mögen „in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hängt durch alle Gelenke, wodurch jedes Glied das andere unterstützt nach dem Maß seiner Kraft und macht, daß der Leib wächst und sich selbst aufbaut in der Leibe” Eph 4:15, 16..
Dieses Zusammenwirken aller Glieder des Leibes ist nur möglich, wenn jedes Glied seiner Aufgabe in der „Gemeinde” entspricht. In unseren Alltag übertragen, könnten wir nun Toleranz verstehen als Duldsamkeit innerhalb gegebener Grenzen, zum Beispiel ethischer Grenzen. Mit anderen Worten, wenn wir falsches Verhalten auch nicht stillschweigend dulden, so müssen wir doch einander vergeben und darauf achten, daß wir andere nicht richten. Das ist unter anderem möglich durch die Erkenntnis, daß in Wahrheit jeder von uns geistig ist und in Gottes Augen gleichwertig geliebt wird. Doch das bedeutet nicht, daß wir uns keine Mühe zu geben brauchen. Jeder Tag bringt neue Gelegenheiten, die Sünde in ihren verschiedenen Variationen zu überwinden. Und ständiges Richten kann zur Sünde werden, wenn es uns davon abhält, das geistige Wesen des Menschen und seine unzerstörbare Beziehung zu Gott zu erkennen.
Wohin können wir uns wenden, um Anleitung zu finden? Die Zehn Gebote von Mose markieren die Grenzen oder die Normen, außerhalb derer wir uns nicht bewegen dürfen. Wenn wir diese Grenzen nicht überschreiten, bleiben wir uns unserer Beziehung zu Gott bewußt und können zugleich eine harmonische Beziehung zu anderen aufrechterhalten.
Im Buch des Propheten Jesaja heißt es, daß der Herr unser Richter und unser Meister ist und daß Er uns hilft. Siehe Jes 33:22. Ja, Gott hilft uns wirklich mit Seinem Richtspruch, denn damit weist Er uns auf den Fehler hin, wenn wir einen gemacht haben. Das macht auch deutlich, daß das, was uns wie eine Strafe erscheint, nicht dazu da ist, uns Schaden zuzufügen, sondern uns hilft oder anleitet, um eine weitere Überschreitung zu vermeiden. Die Seligpreisungen in Jesu Bergpredigt zeigen demgegenüber den Lohn für das Einhalten der Gesetze Gottes. Also dafür, daß wir uns immer innerhalb Seiner Grenzen bewegen und damit Seinen Segen und Schutz genießen.
„Aber wie können wir es genießen, in Grenzen leben zu müssen?” mögen Sie fragen. Wenn wir uns an die Christliche Wissenschaft oder die Gesetze der unendlichen göttlichen Liebe halten, brauchen wir nicht zu befürchten, daß wir uns eingeengt fühlen könnten. Im Gegenteil, „Gottes Sein ist Unendlichkeit, Freiheit, Harmonie und grenzenlose Seligkeit” Wissenschaft und Gesundheit, S. 481., erklärt Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit. Und mit dieser Erkenntnis wird Gehorsam mehr zu einer Freude als zu einem „Muß”. Als Gottes geistige Idee ist jeder von uns dazu geschaffen, Liebe zum Ausdruck zu bringen und das Gute zu lieben. Es ist ein natürlicher Teil unseres Seins!
Wie aber steht es mit „duldsam, ... weitherzig”? Bedeutet das, daß wir Fehler ganz einfach übersehen und vergessen sollen? Ganz und gar nicht. Stellen Sie sich vor, jemand kommt mit einem Rechenproblem zu Ihnen. Das richtige Ergebnis ist bekannt, aber das errechnete stimmt nicht mit diesem überein. Ihre Überprüfung zeigt Ihnen, daß ziemlich am Anfang ein Fehler gemacht wurde, der die ganze weitere Rechnung verfälscht hat. Was würde es nützen, diesen Fehler am Anfang zu übersehen, denn „schließlich war ja nachher alles richtig”!
Um mit und Verständnis den gefundenen Fehler zu berichtigen, muß man ihn als Fehler anerkennen. Solche „Zurechtweisungen” werden uns auch verständlich machen, warum man unter Umständen immer wieder über den gleichen Fehler stolpert, ohne ihn als solchen zu erkennen. Vielleicht arbeitet und betet man zu oberflächlich. Oder vielleicht kommt er vor, weil man behauptet: „Mir kann doch ein solcher Fehler nicht passieren!”
„Das stimmt”, sagen Sie vielleicht. „Aber warum erwarten wir in den vielen sogenannten kleinen Dingen Duldsamkeit, wo es doch bei diesen recht einfach wäre, korrekt zu handeln? Zum Beispiel erwarten viele Leute, daß wir eine Notlüge tolerieren.”
Eine Möglichkeit, darauf einzugehen, wäre, sich zu überlegen, wie wir mit einem Rechenfehler umgehen würden. Ist ein Ergebnis, das durch eine Reihe von kleinen Fehlern zustande gekommen ist, weniger falsch als dasjenige, das nur auf einem — dafür aber einem sehr gravierenden — Fehler beruht?
Wenn wir die „kleinen“ Fehler — wie Nachlässigkeit vielleicht — genauso einschätzen würden wie die schwerwiegenden und verstehen, daß wir sie ebenso sorgfältig werden berichtigen müssen wie den einen größeren, würden wir gewiß besser auf den geraden und schmalen Weg achtgeben, um nicht von ihm abzukommen.
Paulus macht in seinem Brief an die Philipper deutlich, daß wir uns nach Gottes Normen richten müssen. Er sagt: „Solltet ihr in einem Stück anders denken, so wird euch Gott auch das offenbaren.” Phil 3:15. Solange eine Auffassung nicht in völligem Widerspruch zu allgemein anerkannten ethischen Grundsätzen steht, können wir sie respektieren, auch wenn sie außerhalb unserer Toleranzgrenze liegt. Diese Art von Respekt ist ein Beispiel für die Anwendung der goldenen Regel, die Christus Jesus uns gegeben hat. Wir können in unserem Denken anderen gegenüber barmherzig sein, so wie wir möchten, daß sie uns gegenüber Barmherzigkeit zeigen. Aber Unehrlichkeit, Treulosigkeit, Egoismus oder Gewalt können wir als Christen gewiß nicht tolerieren.
Duldsam zu sein oder zu vergeben ist sicher nicht immer leicht. Es ist genauso leicht oder schwer wie das Halten der beiden Gebote Christi Jesu, nämlich Gott von ganzem Herzen zu lieben und unseren Nächsten wie uns selbst. Zu vergehen, aber keinen unzulässigen Kompromiß mit unseren christlichen Grundsätzen zu schließen — das ist echte Toleranz, und ihre Grundlage ist die goldene Regel, die der Meister uns gab Siehe Mt 7:12..