In der Bibel wird berichtet, dass Christus Jesus es ablehnt, Richter und Schlichter über ein Erbe zu sein.Lk 12:13–21. Sicherlich erkannte Christus Jesus den unausgesprochenen Wunsch des Bittstellers nach einer für ihn vorteilhaften Regelung. Doch warnt er ihn und das Volk durch das bekannte Gleichnis von dem Kornbauern, der zwar reich an materiellen Schätzen ist, aber „nicht reich bei Gott”, vor Habgier. Dort weist Christus Jesus eindringlich auf die Unvereinbarkeit des Wunsches nach einem Leben in rein äußerlichem Wohlstand und der Erkenntnis der wahren Substanz unseres Lebens hin.
Mir wurde das vor einiger Zeit sehr klar, als mir unerwartet die Mitteilung eines Amtsgerichts zugestellt wurde. Die Kopie des Testaments eines kürzlich verstorbenen Verwandten besagte, dass ich von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen worden war. Bei dieser Nachricht fühlte ich anfangs eine große Enttäuschung, die sich bald zu Groll und hilfloser Verärgerung steigerte. Es kamen alte, nicht berichtigte falsche Gedanken — man könnte sie volkstümlich als „mentale Ladenhüter” bezeichnen — in meinem Denken auf. Ich litt unter der Vorstellung, dass ich für meine Verwandten offenbar mehr Zuneigung empfunden hatte als sie für mich und dass sie mich wohl doch nicht so akzeptiert hatten, wie ich es gerne gehabt hätte, ja, dass sie meine Liebe vielleicht gar nicht wahrgenommen haben konnten.
In dieser kritischen, unklaren Situation tat ich endlich den ersten richtigen Schritt: Ich betete. Ich entschloss mich, nicht länger über dieses Gedankenwirrwarr nachzugrübeln und mich in einem Labyrinth menschlicher Argumente zu verfangen, sondern war bereit, mein Denken konsequent auf die Wahrheit über den Menschen und die Situation zu richten. Dazu gehörte die Erkenntnis, dass ich für das Denken und Handeln meiner Verwandten nicht verantwortlich war, wohl aber für mein eigenes. Ich wusste, dass es in meinem eigenen Interesse lag, die falschen Vorstellungen unverzüglich decken und zu zerstören. Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, gibt uns in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift für die Handhabung des Irrtums folgenden grundlegenden Rat: „Du mußt die bösen Gedanken im ersten Fall beherrschen, sonst beherrschen sie dich im zweiten.”Wissenschaft und Gesundheit, S. 234. Bei meiner Arbeit wurde ich zu einer weiteren, für mich entscheidenden Aussage von Mrs. Eddy aus ihrem Werk Kanzel und Presse geführt. Sie lautet: „Wisset denn, daß ihr unumschränkte Macht besitzt, recht zu denken und zu handeln, und daß nichts euch dieses Erbes berauben und gegen die Liebe verstoßen kann.”Kanzel und Presse, S. 3.
Auf dieser gedanklichen Basis wurde ich ruhig. Ich erkannte: Wenn es der Wahrheit entspricht, dass ich große Zuneigung zu meinen Verwandten habe — unabhängig von den Entscheidungen, die sie für oder gegen mich getroffen haben — kann sich dieses Gefühl auch nicht unter für mich ungünstigen Umständen in sein Gegenteil — Verbitterung, Kritiksucht, Eigenliebe — umkehren. Jetzt war die Gelegenheit zu beweisen, dass ich meine Angehörigen wahrhaft liebte, indem ich sie als das erkannte, was sie im absoluten Sinne bei unserem Vater-Mutter Gott stets gewesen waren: die reife Widerspiegelung des göttlichen Gemüts. Es ging mir nicht darum, mit Hilfe menschlicher Vernunft die Handlungen anderer zu idealisieren. Ich empfand die Situation als eine Herausforderung und gleichzeitige Gelegenheit zum Wachstum im Verständnis. Ich wollte erfahren, dass Gott Liebe ist, wie die Bibel von Ihm sagt.
Die anfangs so aggressiv empfundene Vorstellung von Ungerechtigkeit wich dem Verlangen nach reinen Gedanken und dem aufrichtigen Wunsch, Gott näherzukommen. Ich konnte mich jetzt freudig des Guten erinnern, das ich als Kind von meinen Verwandten empfangen hatte, was ich aber in meinem Groll nicht mehr hatte akzeptieren wollen. Bei meinem Bibelstudium dachte ich darüber nach, was „Erbe” überhaupt ist. Die allgemeine Auffassung von „Erbe” schließt den Glauben an Glück oder Erfüllung durch Personen oder Dinge unabhängig von göttlichen Möglichkeiten ein. Ich wollte aber meine von Gott gegebenen Möglichkeiten nutzen und sie nicht in irgendwelchen „Schatzkammern” brachliegen lassen. Sofort kam mir der Gedanke, dass ich meine Verwandten mehr lieben wollte.
Die anfangs so aggressiv empfundene Vorstellung von Ungerechtigkeit wich dem aufrichtigen Wunsch, Gott näherzukommen.
Mir wurde immer klarer, dass ich in Wirklichkeit gar nicht enterbt werden konnte. Kein Mensch konnte mir etwas vorenthalten, da mein wahres Erbe meine Gotteskindschaft ist. Im Brief an die Römer schreibt Paulus: „Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi.”Röm 8:17. Diese Zusicherung schließt die Vorstellung aus, dass man Vervollkommnung durch materielle Methoden erfahren könnte, dass andere bessere Möglichkeiten hätten, bevorzugt wären oder mehr Erfolg hätten.
Geht man bei einer materiellen Erbberechtigung davon aus, dass zu unbestimmter Zeit gewisse Ereignisse eintreten, könnte diese Erwartungshaltung dazu verleiten, sich mental bequem zurückzulehnen und die Situation abzuwarten oder gar zum Heuchler zu werden, um einem menschlichen Erblasser zu gefallen. Im Lehrbuch Wissenschaft und Gesundheit spricht Mrs. Eddy aber davon, dass wir „die Freiheit der Söhne Gottes beweisen” müssen. Es geht hier also weder um Passivität noch um Überaktivität, einen materiell-rechtlich abgesicherten Status, z. B. durch Testament oder Erbvertrag, zu erlangen, sondern darum, gemäß der biblischen Verheißung zu erkennen, dass wir Gottes Erben sind und Er uns unser Erbteil erhält. Dies bedeutete für mich ganz klar, dass ich kein Testament brauche, um mein wahres Erbe anzutreten. Das brachte mir Inspiration, Führung, Sicherheit und das Bewusstsein der dauernden Gegenwart des Vaters, der göttlichen Liebe.
Für mich stellten sich die erhofften Segnungen sehr schnell ein. Mein Groll wich einem Gefühl der Unbefangenheit und Befreiung. Aus diesem umgewandelten Bewusstsein und einem barmherzigen Mitgefühl heraus war es mir möglich, Verbindung zu der Witwe meines Verwandten aufzunehmen, ihr meine Hilfe auzubieten und zu erfahren, wie sie ihre veränderte Lebenssituation meisterte. Bei diesen Kontakten erlebte ich eine weitere Befreiung von alten Denkmodellen: Meine Verwandte freute sich über meine Anrufe und Briefe und sprach so herzlich und aufrichtig mit mir, wie ich es in den Jahren zuvor nicht erlebt hatte. Bei unseren Gesprächen kamen zu meiner Freude ein größeres Verständnis füreinander und auf meiner Seite zusätzlich eine höhere Achtung vor ihren Leistungen zum Ausdruck. Als sie andeutungsweise das Testament erwähnte, hatte dieses längst aufgehört, ein Thema für mich zu sein. Ich hatte mein wahres, göttliches Erbe schon angetreten, denn ich hatte erkannt, dass das wahre Erbe des Menschen ist, mit geistiger, dauerhafter Substanz gesegnet zu sein.