Da aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn”, sagt uns die Heilige Schrift. Als das ebräische Volk zur Erkenntnis der Unzulänglichkeit Jüdischer Gesetze und Bräuche erwachte und die Sehnsucht nach der Erkenntnis der Gotteskindschaft und des alliebenden, allgewaltigen Prinzips der Liebe ihren Höhepunkt erreichte, da hatte der alliebende Vater auch ein Werkzeug bereitet, das in Reinheit seinen Gottesgedanken empfangen und zum Ausdruck bringen konnte: da wurde Jesus von der Jungfrau geboren, und der Weg zum Vater war frei.
Jenes erkenntnisschwere Wort des Paulus hat sich immer wieder von neuem im Geschicke der Völker erfüllt. Das Hervorbrechen großer, erneuernder Ideen geschah immer, da „die Zeit erfüllet ward”. Gottes Stunde und Weise ist eben mit dem kleinen Menschenmaß nicht zu messen. Und auch Gottes Werkzeug ist nie in der Weise menschlicher Klugheit erwählt worden. „Da aber die Zeit erfüllet ward” kam Luther, der schlichte, demütige, gottesstarke Bergmannssohn aus Thüringen, und brachte dem in priesterliche Gewänder eingeengten Gedanken religiöse Freiheit. Die Bibel ward dem deutschen Volk in ihrer ganzen Herrlichkeit und Fülle gegeben, und die Reformation hielt ihren Siegeszug durch alle Lande, wo das Denken gereift und das Volk daher bereit war, sich einer höheren Erkenntnis der Wahrheit zu erschließen.
Und wiederum: „Da aber die Zeit erfüllet ward”,— als die Zeit des Suchens, des Verlangens nach ganzer, völliger Hingebung an den Vater erfüllet ward, da hatte sich Gott abermals Sein Werkzeug bereitet. Die Schätze, die Jesus den Menschen gebracht, und die menschliche Ansichten, kirchliche Verordnungen, Weltklugheit und geistige Trägheit gleichsam unter Staub und Schutt begraben hatten, sie wurden wiederum aufgedeckt. Es bewies sich als Wahrheit: Das Christentum ist nicht ein im Laufe der Jahrhunderte abgetragenes Gewand; die Verwirklichung von Jesu Befehl: „Machet die Kranken gesund, reiniget die Aussätzigen, wecket die Toten auf, treibet die Teufel aus”, dem die Jünger und die Christen der ersten Jahrhunderte mit der ihnen von Gott verliehenen Autorität nachkamen, ist nicht eine verloren gegangene Kraft, sondern eine gegenwärtige Tatsache, ebenso gegenwärtig wie Gott und Sein lebendiges Wort. Die Christliche Wissenschaft beweist in unsern Tagen, daß der ewige Christus, die unsterbliche Wahrheit, heute wie zu Jesu Zeiten heilt, reinigt und befreit. Und auch hier hatte Gott sein Werkzeug gewählt, wenn auch nicht nach der Weise der Welt. Eine liebevolle, reine, fromme Frau wurde von Gott erleuchtet. Mary Baker Eddy war ein Gott-Sucher von Kindheit an; aber erst als reife Frau, als sie durch einen Unfall niedergestreckt ward, und Familie und Ärzte sie als eine Sterbende betrachteten, erwachte sie beim Lesen der Bibel zur Erkenntnis der Tatsache, daß Gott ihr Leben, der heilende Christus ihr gegenwärtiger Erlöser sei. Und da sie von wahrer Nächstenliebe erfüllt war, behielt sie diese Tatsache nicht für sich, sondern machte sie zu einer Segensquelle für die Menschheit.
Wie reich, wie liebevoll und wunderbar ist doch das Walten Gottes! Nicht aus Europa mit seinen vielen Bibelforschern, Gelehrten und Evangelisten, nicht aus der Gottesgelahrtheit, nicht aus einer Landeskirche mit ihrer stracken Organisation von Oberkirchenrat und Konsistorien, nein, aus Amerika, aus dem freigewordenen religiösen Gedanken eines freien Landes kam von neuem die uralte Christus-Idee. Und dazu durch eine Frau.
Wie viele Vorurteile mußten in andern Ländern überwunden werden, einschließlich unsres lieben deutschen Vaterlandes. Wie viel behördliche Besorgnis, offizielles Kirchenwesen und individuelles Besserwissen mußte durch Tatsachen besiegt werden, damit die Christliche Wissenschaft im Ausland eine Stätte finden konnte. Aber stille Arbeit unter göttlicher Leitung, eingreifende Beweise der heilenden Wahrheit und eine wachsende Erkenntnis derselben bereiteten nach und nach auch den Boden Deutschlands. Die Christliche Wissenschaft wuchs ständig, trotz aller Schwierigkeiten. In Berlin, in Stuttgart, Dresden, Frankfurt a. M., Braunschweig, in der Schweiz und überall verstreut im stillen Lande wuchsen und reiften die Saatfelder der Christus-Wissenschaft. Und obwohl Mrs. Eddy selbst es anfangs nicht für weise hielt, „Science and Health with Key to the Scriptures“ übersetzen zu lassen, es kam doch endlich ein Tag, eine Stunde Gottes, „da ... die Zeit erfüllet ward”, und der Schlüssel zur Heiligen Schrift wurde dem deutschen Volke in deutscher Sprache gegeben, und zwar auf Mrs. Eddys eigne Verordnung und nach ihrer Anweisung.
Der reiche Segen, der dem deutschen Volk aus Mrs. Eddys Anordnung der Übersetzung von „Science and Health“ erwachsen wird, läßt sich heute nur ahnen. Ein Volk der Denker lernt nun Gott gemäß denken. Es erwacht aus der Eintagsweisheit menschlicher Wissenschaft, die immer nur zu dem Seufzer führen kann: „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor”, zum Verständnis der Christlichen Wissenschaft, der Wissenschaft aller Wissenschaften. Das fromme, schlichte deutsche Gemüt beugt sich dem alliebenden, schaffenden Gottesgemüt. Es beginnt seine geistige Freiheit zu verstehen. Geistige Wahrheiten, die Lessing, Kant, Schleiermacher und andre tiefe Denker und Dichter nur berührt haben, werden nun klar erfaßt und praktisch verwertet. All dies ist wahrlich ein Maß des Segens, das wir zur Zeit nicht ermessen können.
Der Weltgedanke von „Freiheit, Einheit, Brüderlichkeit” ist in neuer und erneuernder Weise in Wissenschaft und Gesundheit zum Ausdruck gebracht. Auf Seite 340 sagt die Verfasserin: „Der eine unendliche Gott, das Gute, vereinigt Menschen und Völker; richtet die Brüderschaft der Menschen auf; beendet die Kriege; erfüllt die Schriftstelle: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst‘; vernichtet heidnische und christliche Abgötterei — alles, was in sozialen, bürgerlichen, kriminalen, politischen und religiösen Gesetzen verkehrt ist; stellt die Geschlechter gleich; hebt den Fluch auf, der auf dem Menschen liegt, und läßt nichts übrig, was bestraft oder zerstört werden könnte.”
