Im zwanzigsten Kapitel des fünften Buchs Mose lesen wir: „Wenn du in einen Krieg ziehst wider deine Feinde, ... so fürchte dich nicht vor ihnen; denn der Herr, euer Gott gehet mit euch, daß er für euch streite mit euren Feinden, euch zu helfen.” Seit undenklichen Zeiten ist viel gedacht und geschrieben worden über die Dinge, die die Welt als Feinde betrachtet und die mit so vielen ihrer Erfahrungen verknüpft sind. Unter dem Ausdruck Feinde dachte man sich aber fast ausschließlich die menschliche Persönlichkeit mit ihren Mängeln, Neigungen, Gewohnheiten, Bräuchen, Verfahrungsarten usw., und als Folge hiervon sind Mißtrauen, Neid, Eifersucht, der Hang zu übler Nachrede, Boshaftigkeit, Haß, Groll, Schmähsucht samt ihrem Gefolge entstanden — Dinge, die der Apostel Paulus im wesentlichen als eitle Vorstellungen bezeichnet.
Aus der eben angeführten Schriftstelle geht hervor, daß der sterbliche Begriff von persönlichen Feinden und die vermeintliche Macht derselben zu allen Zeiten die Ursache des Jammers und Elends, der Kämpfe, Zwistigkeiten und Wirren der Menschheit gewesen ist, ja die Ursache von mehr Unglück und Mißerfolg, von mehr Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, als Worte zu schildern vermögen. Die Vorstellung, daß das Übel wirklich und berechtigt sei, rechtmäßigen Anspruch auf Existenz habe, eine überall wirkende Kraft darstelle, mit der man in Dingen des täglichen Lebens rechnen müsse — diese Vorstellung hat scheinbar auf einzelne Personen wie auf Völker ihren tödlichen Einfluß ausgeübt.
Die Bibel enthält vieles, was auf sogenannte Feinde Bezug hat. Wenn ihre Erzählungen, namentlich die des Alten Testaments, buchstäblich aufgefaßt werden, so scheint es allerdings, als begünstige und bestätige sie den Glauben, daß die Macht des Bösen im menschlichen Leben und in der menschlichen Erfahrung stets so groß wenn nicht größer gewesen sei, als die Macht der göttlichen Liebe. Man muß jedoch bedenken, daß die Bibel in ihrer reinsten, besten und höchsten Auslegung nicht materielle sondern geistige Dinge vertritt. Daher sollte der, der wirkliche Fortschritte machen und in diesem Buch mit Erfolg forschen will, stets bestrebt sein, die wahre, geistige Bedeutung der Schrift zu suchen und anzuwenden. Nur so wird er die listige Versuchung überwinden können, bei seiner Arbeit mutlos oder zaghaft zu werden, oder, was noch schlimmer ist, sich durch die bildlichen Ausdrücke und Darlegungen dieses herrlichen Buches irreleiten zu lassen.
Da die Bibelverfasser Menschen waren, ähnlich denen, die wir heute noch um uns sehen, und da sie sich mit unzähligen menschlichen Fragen befassen mußten, so ist es gar nicht zu verwundern, daß sie bei der Darlegung tiefer metaphysischer Wahrheiten und bei der Verkündigung heiliger Gebote und Ermahnungen sich der sterblichen, materiellen Ausdrücke und Veranschaulichungen bedienten, die damals unter einfachen Leuten als Mittel zur gegenseitigen Verständigung dienten, die aber im gegenwärtigen Jahrhundert oft so gänzlich von der üblichen Ausdrucksart abweichen, daß es den Anschein hat, als verbärgen sie die geistige, wissenschaftliche und ewige Wahrheit, die den Hintergrund der Gedanken und menschlichen Bemühungen dieser alten Schreiber bildet.
Hierbei sollte auch des Umstandes gedacht werden, daß die sechsundsechzig Bücher, aus denen die Bibel besteht, ursprünglich in drei Sprachen abgefaßt waren, in der ebräischen, chaldäischen und griechischen, und daß sie zu verschiedenen Zeiten, unter verschiedenen Umständen und Verhältnissen geschrieben wurden, und zwar von Verfassern, von denen nicht zwei genau dieselben Gelegenheiten zur Entwicklung gehabt oder dasselbe Verständnis vom Geistigen und Wirklichen im Gegensatz zum Materiellen und Unwirklichen erlangt hatten. Außerdem ist es mehr als wahrscheinlich, daß in einigen der ersten Aufzeichnungen über die Äußerungen eines metaphysisch denkenden und wirkenden Menschen die Bedeutung der ursprünglich zum Ausdruck gebrachten oder angedeuteten Wahrheit infolge der mehr oder weniger materiellen und oberflächlichen Anschauungen des Schreibers zum Teil verloren ging. Dies gilt auch von den verschiedenen Bibelübersetzungen.
„Die einzige Auslegung der Heiligen Schrift, die von Wichtigkeit ist, ist die geistige”, schreibt Mrs. Eddy auf Seite 320 des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, und auf der vorhergehenden Seite lesen wir: „Die göttliche Wissenschaft, die in der Ursprache der Bibel gelehrt wurde, kam durch Inspiration, und es bedarf der Inspiration, um sie zu verstehen. Daher das Mißverstehen der geistigen Bedeutung der Bibel, und daher in manchen Fällen die falsche Auslegung des Wortes durch nicht-inspirierte Schreiber, die nur das niedergeschrieben haben, was ein inspirierter Lehrer gesagt hatte.” In geistiger Auslegung, die, wie Mrs. Eddy klar macht, die einzige wahrhaft logische, folgerichtige und förderlich wirkende ist, erscheint die Bibel als der tägliche Wegweiser für alles menschliche Denken und Streben, da gerade die Abschnitte, die einem vielleicht vormals dunkel, unverständlich, doppelsinnig und unbrauchbar schienen, überaus klar und einfach, überzeugend und kraftvoll werden. Dadurch wird die Wahrheit bewiesen, die in jenem bedeutsamen Ausspruch des Paulus in seiner zweiten Epistel an Timotheus enthalten ist, nämlich: „Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung [Erziehung] in der Gerechtigkeit”.
Von dieser Grundlage ausgehend, wollen wir nun zu bestimmen suchen, was die geistige, die echte, wissenschaftliche, endgültige Lehre der Bibel ist in bezug auf sogenannte Feinde. In den von Micha hinterlassenen Aufzeichnungen lesen wir, daß „des Menschen Feinde sind sein eigen Hausgesinde”, während wir im Evangelium Matthäus beinahe die gleichen Worte aus dem Munde des Meisters zu hören bekommen: „Und des Menschen Feinde werden seine eignen Hausgenossen sein.” Eine Autorität erklärt, das Wort „Mensch” [englisch man] sei in seiner ursprünglichen Bedeutung wahrscheinlich dem Wort man im Sanskrit verwandt, was denken bedeutet, sowie auch dem englischen Wort mind. Das erste Kapitel des ersten Buchs Mose bietet eine lebendige Schilderung der Schöpfung des vollkommenen, idealen Menschen. Es enthält die Erklärung, Gott habe den Menschen zu Seinem Bilde geschaffen. Da Gott Geist, Gemüt ist, wie die Schrift behauptet, so muß der ideale oder unsterbliche Mensch als Gottes Wiederspiegelung oder Ausdruck Gott gleich sein.
Da sowohl Micha wie Jesus die Tatsache erkannten, daß der unsterbliche Mensch als Offenbarwerdung des göttlichen Gemüts in erster und letzter Linie geistig ist, so meinen sie offenbar mit der bedeutungsvollen Aussage, daß des Menschen Feinde „seine Hausgenossen” seien, einen falschen Zustand der falschen, fleischlichen Mentalität des unvollkommenen, sterblichen Menschen, d. h. ein nur in der falschen Vorstellung bestehendes, gefälschtes Bild vom unsterblichen oder wahren Menschen. Um es anders auszudrücken: die Hausgenossen des Menschen sind seine eignen sündhaften, materiellen Gedanken, jene verderblichen, zerstörenden Gedanken, die zu der Anschauung geführt haben, daß der Mensch die Vereinigung von Geist und Materie sei und daher unter der Herrschaft des Guten wie des Bösen stehe. Daraus entspringt naturgemäß der Glaube, es sei nicht nur möglich, sondern stehe auch im Einklang mit der göttlich festgestellten Ordnung und Gesetzmäßigkeit, daß Menschen von ihrem göttlichen Prinzip, Geist, unendlicher Liebe, lange genug getrennt werden könnten, um sich als Feinde gegenüberzustehen — als grausame, ungebändigte Verkörperungen dessen, was dem göttlichen Prinzip ungleich ist, dem himmlischen Vater, als dessen Ebenbild und Gleichnis sie doch dargestellt werden.
Indem der Apostel Paulus mit charakteristischer Festigkeit und Energie den listigen Anspruch des tierischen Magnetismus oder Irrtums bloßstellt, der so oft ein hervortretender Zug, ein unnachgiebiger Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit zu sein scheint, ruft er aus (Apostelg. 13: 10): „O du Kind des Teufels, ... und Feind aller Gerechtigkeit”. Hier ist der Begriff Feind als ein Werk oder eine Schöpfung des Teufels oder Übels dargestellt. Und was finden wir, wenn wir bei unserm großen Lehrer nach einer richtigen Definition vom Teufel, dem Urheber alles Übels suchen? Den Ausspruch: „Derselbige ist ein Mörder von Anfang und nicht bestanden in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er von seinem Eignen; denn er ist ein Lügner und ein Vater derselbigen.” Hieraus ersehen wir, daß die Feinde eines Menschen immer nur „die eignen Hausgenossen” sind und sein werden, solange diese Feinde oder Gegner scheinbaren Bestand haben. Sie sind falsche Träume, auf einem Irrtum beruhende Vorstellungen, Gedanken und Anschauungen, die zur Niederlage und Knechtung führen und den Sterblichen dadurch nötigen können, zu glauben und zu erklären, die Beziehungen und Angelegenheiten der Menschheit würden mehr oder weniger von einer Macht regiert, die von dem allmächtigen, allgegenwärtigen Gott, dem Guten, getrennt ist, ja ihr entgegensteht — von einer parteilichen Macht, die Angst, Entfremdung, Haß Rachsucht und andres mehr hervorruft.
Es ist somit klar, daß die eignen Feinde nur die bösen Vorstellungen sind, die jederzeit in unser Denken einzufallen und gute Gedanken zu verdrängen suchen. Satan oder der Teufel, der diese Vorstellungen hervorzurufen und zu unterstützen scheint, wodurch entweder die sogenannten persönlichen oder die unpersönlichen Feinde entstehen, ist kein materielles Wesen mit Hufen und Hörnern, das in der Unterwelt haust, sondern nur der Scheinbeweis gegen das Gute, der im Bewußtsein des Einzelnen Raum und Macht zu gewinnen sucht. Dem Meister zufolge, der stets bewies, was er lehrte, und dessen Worte daher volle Geltung haben, kommt das, was nicht gut, erhebend, mild, freundlich, rein und heilig ist, nicht von Gott, gehört nicht zu Seiner Schöpfung und wird nicht von Ihm gutgeheißen. Es ist eine bloße Verneinung, eine Unwirklichkeit, ein Anspruch des Teufels oder Übels.
Da nun irriges Denken der einzige Urheber dessen ist, was als Feinde angesehen wird, sowie der einzige Bürge für dasselbe, so ist es klar, daß Berichtigung dieses Denkens das normale Verhältnis zwischen uns und unserm Nächsten herstellt. Diese Berichtigung bedeutet ein Zerlegen, Aufdecken und Vernichten des widersprechenden unlogischen, von den materiellen Sinnen gebotenen Zeugnisses, eines Zeugnisses, das für die Wirklichkeit, Macht und Notwendigkeit des Neides, der Eifersucht, des Zwistes, des Streites, der Trennung, der Schmähsucht spricht. Diese Berichtigung erneuert den menschlichen Charakter und kräftigt ihn dermaßen, daß es uns möglich wird, hinsichtlich eines jeden Mitmenschen in den Schriftworten zu sagen: „Haltet ihn nicht als einen Feind, sondern vermahnet ihn als einen Bruder.”
So sehen wir, daß es letzten Endes keine Feinde gibt, gegen die man streiten und vor denen man sich fürchten müßte, denn Gott, das Gute, Geist, Leben und Liebe, die allerhabene Macht, Gegenwart und Intelligenz im Weltall, der Gott, von dem die Bibel sagt: „Der Herr allein ... und ist keiner mehr”, ist zu allen Zeiten und an allen Orten mit den Menschen. Ferner sehen wir, daß alles, was wirklich besteht, ein unmittelbarer Ausdruck Seiner unbegrenzten, unveränderlichen und ewigen Macht und Herrlichkeit ist. So wird für alle, die sich bestreben, der göttlichen Wahrheit gemäß zu reden und zu handeln, die Verheißung in Erfüllung gehen: „Wendet euch zu mir, so werdet ihr selig, aller Welt Enden”.
