Jesus Christus richtete das Denken stets auf das Gebiet des Übersinnlichen. Er war zu weise und zu wissenschaftlich, um sich selbst als auf der Stufe der physischen Sinne stehend zu betrachten. Hätte er dies getan, so wäre das Christus-Ideal nicht durch ihn kundgeworden. Die Erkenntnis, die in seinen Worten lag: „Ich bin von obenher”, trennte ihn von allem, was „von untenher” war und gab ihm übermenschliche Weisheit und übermenschliches Verständnis zur Berichtigung der irregeführten Sinne.
Wenn Jesus an seiner scheinbaren sterblichen Hülle oder seiner Körperlichkeit festgehalten hätte oder für sie eingestanden wäre, so hätte sich sein Denken auf demselben Niveau bewegt wie das der Sterblichen, und er hätte den Weg zum Himmel, zur bewußten Erkenntnis des wissenschaftlichen Seins nicht weisen können. Für ihn stand Gott an erster Stelle, und daher war der Christus, sein ewiges Selbst, eher denn jeder menschliche Begriff. Diese Erkenntnis Gottes und Seiner vollkommenen geistigen Schöpfung stellte den Meister auf eine unvergängliche Grundlage, die von den Theorien und Lehren der Menschen unberührt geblieben ist und auf ewig unberührt bleiben wird.
Die Sinnesart der Sterblichen ist der Sinnesart Christi Jesu entgegengesetzt. Dem Übersinnlichen messen die Sterblichen nur geringe Bedeutung bei. Sie stehen im Bündnis mit den materiellen Sinnen, die „von untenher” sind und daher dem geringsten Fortschritt der Christus-Idee im menschlichen Bewußtsein widerstehen. Die Idee von des Menschen Unsterblichkeit bedeutet für sie nicht etwas, was auf den heutigen Tag Bezug hat, sondern mutet sie an wie etwas, das in das Gebiet des Spekulativen gehört und mit einer fernen Zukunft in Verbindung zu bringen ist. Sie können sich kein Reich Gottes auf Erden denken. Sehr richtig ist von ihnen gesagt worden, daß sie selbst nicht hineingehen und denen wehren, „die hinein wollen”. Nichts, was über das Niveau der materiellen Sinne geht, hat für sie irgendwelches Interesse. Die Wirksamkeit eines unsichtbaren geistigen Gesetzes wird ungläubigen Sinnes angesehen, mag durch dasselbe noch so viel Gutes in die Erscheinung getreten sein. „Wir erkennen das Vollbrachte an”, meinen sie, „bezweifeln aber, ob demselben ein Prinzip zugrunde liegt”. Sie wollen dem menschlichen oder sterblichen Gemüt die Erschaffung des Guten zuschreiben und opfern auf dem Altar des Mesmerismus und Hypnotismus. Wie Herodes wollen auch sie den schlichten und einfachen Kindesgedanken, der die Wirklichkeit des Übersinnlichen bezeugen will, umbringen.
Wie soll diese Abnormität des menschlichen Bewußtseins beseitigt werden? Wie soll die Menschheit von dem unsagbaren Elend erlöst werden, das durch falsches Denken bewirkt worden ist? Mrs. Eddy faßt die Antwort auf diese Fragen in folgenden Worten kurz zusammen: „Wir erfassen Leben in der göttlichen Wissenschaft nur insoweit, wie wir uns in unserm Leben über den körperlichen Sinn stellen und ihn berichtigen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 167). Dieses Leben über dem körperlichen Sinn und die Berichtigung dieses Sinnes ist eine Frage, welche der Beachtung aller denkenden Menschen wert ist und Gegenstand ernster Betrachtung sein sollte. Die Christlichen Wissenschafter selbst können und dürfen der eindringlichen Forderung gegenüber, in Übereinstimmung mit ihrem Bekenntnis zu leben, nicht gleichgültig sein. Der allererste Schritt aus dem Wahnbegriff des Todes heraus besteht darin, daß man das Denken über das Niveau des körperlichen Sinnes erhebt. Sodann muß man in Übereinstimmung mit solchem Denken leben.
Es sei denn, das Denken, das unser Handeln beherrscht, ist richtig, so hat das Gedachte wenig oder gar keinen Wert. Unsre Führerin erklärt daher: „Wenn die Sterblichen still oder laut erklären, Gott sei alles, und es gebe keine Krankheit und keine Sünde, so macht das aus ihnen entweder Heilige oder Sünder” („Miscellaneous Writings“, S. 293). Die Allheit Gottes, des Guten, bekräftigen und dann von dem Standpunkt aus handeln, daß das Böse wirklich sei, macht die Menschen zu Sündern, während ein Leben, das mit dem Bekenntnis der Oberherrschaft des Guten im Einklang steht, zu einem höheren Grad der Rechtschaffenheit und Reinheit führt. Nur das tatsächliche Fahrenlassen und Überwinden des Bösen berechtigt uns, das Böse aus den Augen zu verlieren. Wenn das Herz nicht gerade ist, so wird unser Bestreben, uns über die Annahme der Sünde zu erheben, fruchtlos bleiben. Der einzige Beweis, daß das Herz gerade ist, wird durch die Lebensführung erbracht sowie durch die tägliche praktische Ausübung dessen, wozu man sich bekennt.
Die Wohlfahrt der christlich-wissenschaftlichen Bewegung hängt davon ab, ob wir „über dem körperlichen Sinn” leben und ihn berichtigen. Wenn Denken und Leben sich dieser Welt anpassen, so findet keine geistige Wiedergeburt statt. Es ist ein gewisser Grad von Nichtübereinstimmung mit dem Sinnen-Denken und Sinnen-Leben erforderlich, um nur rein sittliche und physische Harmonie herzustellen, von geistigem Fortschritt ganz zu schweigen. Unterwerfung unter das, was der Meister überwand und was, seiner Ermahnung zufolge, seine Nachfolger überwinden müssen, bedeutet mentalen Stillstand, Teilnahmlosigkeit und Gleichgültigkeit, Abwesenheit jeglichen Strebens nach dem Übersinnlichen. Die Annahme, daß geistige Sinnesart wenig praktischen Vorteil biete, sollte uns kein Grund sein, an dem festzuhalten, was Jesus vor alters kreuzigte und ihn auch heute kreuzigen würde, wenn er persönlich auf Erden wäre.
Unsres Meisters klares Erfassen des Übersinnlichen machte ihn zum praktischsten Christen, der je gelebt hat. Es gab ihm die Macht, bis auf den Grund des menschlichen Denkens zu dringen, ohne von dessen Sinnes-Theorien und Sinnes-Ansichten berührt zu werden. Er sagte, ohne die Erkenntnis Gottes und Seiner Idee könne er nichts tun. Sein ganzes Leben war voll geistigen Wirkens. Stets tat er Gutes, während seine Gegner redeten, statt zu handeln. Er bewies ein gutes Urteil. Sie wußten nicht, worin ein solches besteht. Er war praktisch, sie waren es nicht. Sein Denken stand im Einklang mit dem Übersinnlichen, das ihre mit dem Sinnlichen. Seine Barmherzigkeit kam in seiner Liebe zu dem zum Ausdruck, was das fleischliche oder sterbliche Gemüt nicht erreichen kann. Für ihn befand sich der Mensch im Reich des Übersinnlichen, außerhalb der Materie, außerhalb des Bereichs von Sünde, Krankheit und Tod. Hätte er der Materie Macht zugeschrieben, so hätte er die Unwirklichkeit ihrer unharmonischen Zustände nicht werktätig beweisen können, er hätte nicht vermocht auf dem Wasser zu wandeln, die Kranken zu heilen und die Toten zu erwecken.
Das Festhalten an den unbeständigen fleischlichen Sinnen führt heute noch, wie zu Jesu Zeiten, zur Kreuzigung der Christus-Idee. Es entspringt der Annahme, daß Leben in der Materie, Seele im Körper, Gutes im Bösen sei. Sind solche Annahmen mit einem erlösenden Glauben an den Herrn Jesus Christus vereinbar? Der wahre christliche Glaube und die wahre Gottesverehrung ist gewiß ganz andrer Art. Die Menschheit wird solange verderbt bleiben und der Besserung bedürfen, bis sie lernt, über der Dunkelheit des sterblichen Gemüts oder der materiellen Sinne zu leben. Vom Standpunkt der Wirklichkeit der Materie aus läßt sich eine genaue, logische und wissenschaftliche Folgerung nicht beibringen. Die materiellen Sinne wissen nichts von Gott oder vom Gottesmenschen. Ihnen ist die eigentliche Bedeutung von Gesundheit, Heiligkeit und Glück unbekannt. „Durch den geistigen Sinn allein”, so lauten Mrs. Eddys Worte, „begreift und liebt der Mensch die Gottheit” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 481).
Dieser geistige Sinn ist die Erkenntnis des Christus, der Wahrheit, welche das unendliche Wesen des Gemüts die Oberherrschaft des Guten und die Nichtsheit der Materie offenbart. Diese Wahrheit läßt die Wirksamkeit des Gesetzes Gottes erkennen, des Gesetzes, das jedes vermeintliche Gesetz der Materie und Krankheit aufhebt und sowohl den Glauben an Sünde als die Neigung zu derselben vernichtet. Die Wahrheit weist den Weg zum Himmel, der in der geistigen Harmonie des Seins besteht, und auf diesem Wege des Friedens können nur diejenigen wandeln, die sich in ihrem Leben „über den körperlichen Sinn stellen und ihn berichtigen”— die das Übersinnliche zu allen Zeiten und unter allen Umständen als die Gesamtheit und das Wesen alles wahren Seins erfassen und festhalten