Als ich bei meinem letzten Besuche in Straßburg im herrlichen Münster dieser Stadt mich umsah und im südlichen Arm des Querschiffes stand, fielen mir hauptsächlich zwei Dinge auf: einmal oben an der Wand auf der Seite der astronomischen Uhr die Steinfigur eines elsässischen Bauers, der den Kopf in die Hand stützt, den Arm an ein steinernes Geländer lehnt und mit kummervoller Miene zur Decke hinaufstarrt; und sodann die Säule, welche in Form eines schlanken Säulenbündels als einzige Stütze das riesige Gewölbe trägt. Sie heißt die „Engels-Säule” und zeigt unten die Gestalten der vier Evangelisten, darüber Engel und weiter oben Christum als Herrn der Welt. Die Baugeschichte des Münsters bringt beide Merkwürdigkeiten, Bauer und Säule, in folgende eigenartige Beziehung zu einander.
Als Meister Erwin von Steinbach diesen Teil der Kirche baute, da soll ein Bauer aus der Umgebung der Stadt zu ihm gekommen sein und ihm gesagt haben, daß diese einzige Säule zu schwach sei, um das gewaltige Gewölbe zu tragen. Der Meister lächelte und suchte den Mann zu beruhigen, der ja keine Ahnung von den erprobten Gesetzen der Festigkeit hatte, auf denen das Werk Erwins fußte. Dieser machte sich dann den Spaß, die Gestalt des Bauers in der oben geschilderten Stellung festzuhalten. Und so schaut dieser nun schon mehr als sechs Jahrhunderte mit angsterfülltem Gesicht an die Decke hinauf, und immer noch ist diese trotz Feuersbrunst und Kriegsgefahren unversehrt geblieben.
Warum ich diese Geschichte erzähle, wird vielleicht mancher erstaunt fragen. Nun ich meine, daß in allen Zeitläuften solche Sorgenbauern in der Welt herumgelaufen sind, ob die Zeiten als gut oder als schlecht bezeichnet wurden; und auch heute ist ihre Zahl noch groß genug. Sagt doch auch das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft: „Die menschliche Furcht ... möchte ... die Menschheit durch auferlegte und mutmaßliche Übel zu Boden drücken” (S. 176).
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