Wenn die Bergpredigt das Wesen der Christlichen Wissenschaft in sich faßt, wie Mrs. Eddy auf Seite 271 von Wissenschaft und Gesundheit sagt, so ist die „Goldene Regel” ihr Inbegriff. Als der Schriftgelehrte Jesus fragte, was er tun müsse, um das ewige Leben zu ererben, stellte Jesus die Gegenfrage: „Wie stehet im Gesetz geschrieben? Wie liesest du?” Der Schriftgelehrte war in dem Buchstaben des Gesetzes wohl unterrichtet und führte daher das „vornehmste Gebot” an: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte, und deinen Nächsten als dich selbst.” Des Meisters Antwort war kurz und treffend: „Tue das, so wirst du leben.”
Wie einfach gestaltet sich doch im Lichte der Christlichen Wissenschaft die Lösung eines jeden Problems; denn Kummer, Sünde, Krankheit und Leiden sind in allen Fällen auf die Tatsache zurückzuführen, daß irgend jemand nicht in Übereinstimmung mit der Christus-Norm, der „Goldenen Regel” gehandelt hat: „Alles nun, das ihr wollet, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.” Wie rasch würde das Böse in seinen tausenderlei Formen verschwinden, wenn jeder Erwachsene und jedes Kind der Ermahnung des Apostels gemäß dem Mitmenschen im Geiste brüderlicher Liebe mit Ehrerbietung zuvorkäme!
Mrs. Eddy erkannte deutlich, welch wohltuenden Einfluß zur Hebung des Menschengeschlechts die brüderliche Liebe ausübt. In all ihren Schriften atmen ihre Ermahnungen und Ratschläge den Geist der Vergebung und Liebe. So sagt sie z. B. in der „Richtschnur für Beweggründe und Handlungen” (Handbuch Der Mutter-Kirche, Art. VIII, Abschn. 1): „In der Wissenschaft regiert allein die göttliche Liebe den Menschen. Ein Christlicher Wissenschafter spiegelt die holde Anmut der Liebe wieder in der Zurechtweisung der Sünde, in wahrer Brüderlichkeit, in Wohltätigkeit und Versöhnlichkeit.” Wenn wir alle diesen Maßstab und die „Goldene Regel” stets vor Augen hätten, könnte dann die geringste Rücksichtslosigkeit gegen andre in einer Kirche der Christlichen Wissenschaft Raum finden? Würden Christliche Wissenschafter sich je kalt und unfreundlich benehmen?
Der Probierstein, der das Gold des Lebens von den unedlen Metallen trennt, ist leicht anzuwenden und bringt reichen Gewinn. Er besteht in der Frage: „Wäre es mir recht, wenn man so gegen m ich handeln würde?” Wir wollen diese Probe bei uns selbst vornehmen, wenn die Versuchung an uns herantritt, das eigne Ich auf Kosten andrer zu befriedigen, über diesen oder jenen gedankenlos abzuurteilen oder eine uns erwiesene Gefälligkeit oder Höflichkeit unbeachtet zu lassen. Dann werden wir den selbstsüchtigen Gedanken Einhalt tun und das unfreundliche Wort unterdrücken, ehe es die Lippen erreicht; dann werden sich Füße und Hände willig in den Dienst des Nebenmenschen stellen. In „Miscellaneous Writings“ (S. 250) beschreibt Mrs. Eddy mit folgenden Worten ihren Begriff der Nächstenliebe, einen Begriff, der weit mehr bedeutet als ein bloßes Bekenntnis: „Sie [die Nächstenliebe] offenbart sich durch die selbstlose Tat, die im Verborgenen geschieht; durch stilles, unaufhörliches Gebet; durch das Überfließen eines sich selbst vergessenden Herzens; durch die verschleierte Gestalt, die sich auf dem Wege zur Linderung irgendeiner Not zur Seitentür hinausschleicht; durch die Füßchen, die den Bürgersteig entlang trippeln; durch die sanfte Hand, die die Tür öffnet, wo Mangel und Elend, Krankheit und Kummer herrschen, so daß Licht in die dunkeln Stellen der Erde einströmen kann.”
Wenn wir darüber nachdenken, wie vielerlei Leiden es doch gibt, die nicht gelindert sind, so muß es uns klar werden, welch reiche Gelegenheit wir als Christliche Wissenschafter haben, unser Bekenntnis in die Tat umzusetzen. Es gibt viele Menschen, für die ein Lächeln oder ein freundlicher Gruß mehr bedeutet denn irgendeine materielle Gabe; viele, die ihre schmerzenden Wunden unter einem seidenen Gewand verbergen und sich nach dem heilenden Balsam sehnen; viele, die auf das Machtwort warten, das sie von ihrer Qual befreien kann; viele, die arbeitsunfähig sind und in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung umsonst nach einem Petrus ausschauen, der ihnen die heilenden Worte zurufen könnte: „Im Namen Jesu Christi von Nazareth, stehe auf und wandele.”
Lange ist es her, seit der Meister auf die reifen Erntefelder hinwies und seine Jünger ermahnte, den Herrn der Ernte zu bitten, daß er mehr Arbeiter sende, weil ihrer so wenige waren. Dieser Ruf zur Erntearbeit ist seitdem vielfach erklungen, und wer Ohren hat zu hören, kann ihn auch in unsern Tagen vernehmen. Sowohl die Völker, die von Kampf und Streit zerrissen sind, als auch diejenigen, die selbstzufrieden und gedankenlos dahinleben, bedürfen der Christlichen Wissenschaft wie nie zuvor, und der Ruf: „Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!” sollte nicht unbeachtet bleiben. Der Kampf gegen Sünde, Krankheit und Tod darf nicht aufhören, bis die Siegespalme weht und die Welt für Christus gewonnen ist.
Jeder erklärte Anhänger der christlich-wissenschaftlichen Lehre hat eine Waffenrüstung angelegt, die er erst nach erlangtem Sieg ablegen darf. Es sollte keine Müßiggänger, keine Drohnen in unsern Reihen geben. Täglich und stündlich müssen wir in Übereinstimmung mit unserm Bekenntnis leben, müssen in unserm Umgang mit Menschen zeigen, daß auch uns der Hilfsbedürftigen jammert (wie so oft von Jesus gesagt wird), indem wir dem weniger begünstigten Bruder seine Last abnehmen. Damit ist nicht gesagt, daß jeder Christliche Wissenschafter seinen Beruf oder seine geschäftliche Tätigkeit aufgeben und sich ausschließlich dem Heilungswerk widmen soll, sondern vielmehr, daß wir gerade auf dem Büro, in der Werkstatt, im Heim, in der Schule, in der Kirche, wo immer wir zu tun haben mögen, für Christus leben müssen. Unser Herz muß von Liebe zu Gott und unsern Mitmenschen überfließen. Nur so betätigen wir die „Goldene Regel.” In der Kirche gibt es fortwährend neue Gesichter. Es sind oft solche, die erst anfangen, nach der Wahrheit zu suchen und denen ein warmer Händedruck und ein freundliches Wort von hohem Wert ist.
Wir haben alle Ursache, unendlich dankbar dafür zu sein, daß durch Mrs. Eddys selbstlose Arbeit so viele Menschen Erlösung gefunden haben; nur dürfen wir nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen, denn wer die Krone erlangen will, muß sie verdienen, wie unsre Führerin sie verdiente, und zwar durch Selbstverleugnung und jene höhere Liebe, die ihre größte Freude darin findet, andern zu helfen.