Eine Predigt ist ein Vortrag, der eine Schriftstelle zur Unterlage hat und der, wenn er seinen Zweck erfüllt, belehrend und erhebend wirkt. Der Prediger ist in der Regel auf sein Amt vorbereitet, und unter seinen Zuhörern behauptet niemand, dieses Amt besser vertreten zu können. Er ist also angenommenermaßen der Denkende, und die Kirchgänger sind Zuhörer. Aus dem Umstande, daß es viele Sekten gibt, geht hervor, daß nicht alle Prediger gleich denken, und daß die Zuhörerschaften daher verschiedenen Lehren Gehör schenken. Wenn es einen einzigen Prediger gäbe — etwas derartiges ist natürlich undenkbar —, so wäre doch eine menschliche Stimme zu schwach, um von der Menschheit gehört zu werden; die Kraft eines Menschenlebens würde vor dieser Aufgabe verschwindend erscheinen. Was aber nach menschlichen Begriffen unmöglich erscheint, das vollbringt das göttliche Gemüt. Sonntag für Sonntag wird heute in der ganzen Welt vor vielen Tausenden eine Predigt gehalten, wobei die Zuhörer die Denkenden sind und sich gleichsam selbst die Predigt halten. Die Woche hindurch haben sie dieselbe Tag für Tag gelesen, und während die Lehre bei den Gottesdiensten durch die Leser hörbar zum Ausdruck kommt, denken die Zuhörer im Einklang mit der Lehre und erbauen sich daran.
Die Leser der im „Christian Science Quarterly“ und im Herold der Christian Science erscheinenden Wochenlektion bilden ein Heer von Denkern nach dem andern, die ohne sichtbare Bande oder sichtbare Führung zu einer Einheit zusammentreten, wie sie noch keinem Heer in der Welt eigen gewesen ist, nämlich zu „einerlei Glauben.” Zum ersten sei die Menge genannt, die sich überall in der Welt am Sonntag in Sälen und Kirchen zusammenfindet, um das Evangelium in einer von traditionellem Dogmentum, philosophischen Mutmaßungen und Kasten-Theorien unbeeinträchtigten Weise predigen zu hören. Außerdem gibt es eine große Anzahl, die in aller Stille diese Lehre studieren, an ihr einen Führer finden und sich gefördert sehen. Dies ist das wahrhaft freibürgerliche, allen Menschen geltende Predigen. Reichtum oder Armut, hohe Stellung oder niedrige Abkunft gelten in unserm Zeitalter nicht mehr, denn, wie Mrs. Eddy in ihrem Vorwort zu Wissenschaft und Gesundheit ankündigt, „die Zeit für Denker ist gekommen” (S. vii).
In einer im Jahre 1895 gehaltenen Ansprache sagte Mrs. Eddy: „Das Christentum des bloßen Sektenwesens, der Kanzel und der Modewelt ist von kurzer Dauer; das Wort Gottes aber bleibet ewiglich.” In derselben Ansprache sagte sie ferner: „Unser Verlagshaus und unsre Sonntags-Lektionen sind für alle Sucher nach Wahrheit von unschätzbarem Wert. Das Komitee zur Vorbereitung der Lektionen für den Gebrauch der Sonntagsschule kann seiner Aufgabe nicht genug Zeit und Aufmerksamkeit widmen und sollte bei der Vorbereitung des ‚Quarterly‘ als eines Erziehungsmittels keine Mühe scheuen” („Miscellaneous Writings,“ SS. 111, 114).
Für die Bedeutung, die die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft der unpersönlichen Predigt beigemessen hat, und für ihre Erkenntnis der universellen Anwendbarkeit dieser Predigt legt folgende Stelle in dem Buche „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany“ (S. 178) beredtes Zeugnis ab: „Eure Bibel und euer Lehrbuch, euer Pastor und eure ethischen Glaubenssätze führen den Sucher nach Wahrheit nicht irre. Diese anspruchslosen Prediger verdunkeln nicht den geistigen Sinn der Heiligen Schrift durch materielle Auslegungen, noch geht durch sie die unbesiegbare Wirksamkeit und Reinheit des Christentums verloren, wodurch die Kranken geheilt und die Sünder erlöst werden.”
Am 3. Juli 1898 wurde die erste Lektionspredigt, die für die gegenwärtige Reihe von Themen vorbereitet worden war, öffentlich gelesen. Das Thema war: „Gott,” und der goldene Text: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm,” Im selben Jahre hatte Mrs. Eddy die Verlagsgesellschaft der Christlichen Wissenschaft durch eine Treuhands- und Übertragungsurkunde gegründet, in der sie für die dauernde Herausgabe der Lektionspredigten in Form eines vierteljährlich erscheinenden Heftes, des „Christian Science Quarterly,“ Vorsorge getroffen. Sie bestimmte ferner sechsundzwanzig Themen zum Gebrauch bei der Zusammenstellung der Lektionen durch das von der Verlagsgesellschaft eingesetzte Komitee. Diese Themen kommen während des Jahres zweimal vor, obschon die Ausführung jedesmal anders ist. Die Unerschöpflichkeit der Bibel und des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs wird dadurch bezeugt, daß diese Lektionen jahraus jahrein mit stetig wachsendem Interesse von denen gelesen werden, die von Anfang an Schüler gewesen sind, und daß sie einer stets wachsenden Zahl von neuen Schülern gleiche Befriedigung gewähren.
Da dieselbe Lektionspredigt in Boston wie in allen Zweig-Kirchen, selbst in den entferntesten Teilen der Welt, gelesen wird, so muß das „Quarterly“ beizeiten erscheinen. Die Lektionen werden daher einige Monate vor ihrer öffentlichen Verlesung zusammengestellt, und zwar von einem Komitee, dessen Mitgliederzahl groß genug ist, um eine gründliche Durcharbeitung und kritische Durchsicht sämtlicher Lektionen zu gewährleisten. Vor jeder Sitzung des Komitees wird von einem Mitglied die zu besprechende Lektion vollständig ausgearbeitet und jedem Mitglied per Post zur Prüfung und zum besonderen Studium zugestellt. Während der Sitzung findet dann eine Besprechung der Lektionspredigt vom gesamten Komitee statt, und es werden Änderungen und Verbesserungen vorgenommen, so daß die endgültige Zusammenstellung und Fassung mehr darstellt als die von einer Einzelperson getroffene Wahl. Sie ist das Ergebnis der Demonstration und des Übereinkommens einer kleinen Gemeinde, das größeren Gemeinden zur Benutzung geboten wird.
Die Predigt selbst besteht aus Stellen aus der Heiligen Schrift sowie denselben entsprechenden Abschnitten aus dem Lehrbuch unsrer Konfession (siehe Erklärende Bemerkung im „Quarterly“ und im Herold). Die Stellen aus der Bibel geben uns Darlegungen, Prophezeiungen, Lehren, Gleichnisse und Erzählungen, die zu dem leitenden Gedanken in den einzelnen Lektions-Abschnitten in Beziehung stehen. Und da das christlich-wissenschaftliche Lehrbuch den Titel führt: Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, so darf von der ersten aus diesem Buch gewählten Stelle in einem Lektions-Abschnitt die Angabe des leitenden Gedankens erwartet werden, der dann durch die weiteren Stellen in seiner wissenschaftlichen Bedeutung näher erläutert wird. Die Lektions-Abschnitte enthalten nicht mehr als fünf Stellen aus der Bibel oder aus Wissenschaft und Gesundheit, daher kann der Leser die Seiten mit einer Hand offen halten, während er von einer Stelle zur nächsten übergeht und die Stellen nacheinander mehreremal durchliest, bis er den jeweiligen Gedanken und die beabsichtigte Lehre im Zusammenhang klar erfaßt hat. Viele machen es sich zur Aufgabe, die ganze Lektion jeden Tag zu studieren, während andre es vorziehen oder nur dazu kommen, einen Teil derselben, vielleicht nur einen Lektions-Abschnitt zu lesen. Auf die eine oder die andre Weise ist es allen möglich, sich während der Woche auf den Sonntagsgottesdienst vorzubereiten.
Das der Lektionspredigt im Laufe der Woche gewidmete Studium macht den Schüler mit den Bibelsätzen und den entsprechenden Auslegungen von Wissenschaft und Gesundheit vertraut und bringt ihn der Erkenntnis des geistigen Lebens näher. Wenn er sich dann mit einer Anzahl Menschen oder einer Gemeinde am Sonntag zur Andacht und zum stillen Gebet vereint, und die Lektion von denen gelesen wird, die sich verpflichtet haben, der Forderung des Handbuchs Der Mutter-Kirche nachzukommen, sich „von der Welt unbefleckt zu halten — rein vom Übel —, damit der mentale Einfluß, der von ihnen ausgeht, Gesundheit und Heiligkeit fördere, ja die geistige Gesinnung, die so allgemein not tut” (Art. III, Abschn. 1), so ist es nur natürlich, daß sein Denken zu den Höhen geistigen Wahrnehmens und Schauens emporgetragen wird und er somit eine trübe Vergangenheit samt ihren Meilensteinen hinter sich läßt. Dieses geistige Schauen läßt das Leben in einem andern Licht erscheinen, erweitert den Gesichtskreis, läutert die Beweggründe und macht ein höheres Streben möglich.
Ein gelegentlicher Besucher einer christlich-wissenschaftlichen Kirche sagte, er hänge immer noch an seiner alten Kirche, weil durch ihr Ritual bei ihm ein für religiöse Dinge empfänglicher Gemütszustand erzeugt werde. Die Gedanken, die er während der Woche hege, seien oft durchaus nicht religiös, und es bedürfe einer starken Anregung, um ihn von den Banden dieser Gedanken zu befreien und bei ihm, wie er sich ausdrückte, eine religiöse Stimmung zu erzeugen. Die Antwort hierauf hätte lauten können, daß eine religiöse Stimmung, die am Sonntag erzeugt wird, aber ohne Einfluß auf das Denken während der Woche bleibt, im Lichte wahrer Religion nicht als wirksam angesehen werden kann. Es wurde ihm jedoch erwidert, daß diejenigen, die aus den allgemein geltenden aber niemals stereotypen Gottesdiensten in den Kirchen der Christlichen Wissenschaft wahren Vorteil ziehen, sich im Laufe der Woche täglich auf den Sonntag vorbereiten. Somit ist ein Faktor wirksam, der keineswegs in einer durch süße Klänge, Düfte oder Farben hervorgerufenen Gefühlserregung besteht, sondern in einer erwachenden Erkenntnis der Wahrheit des Seins.
Das „hörende Ohr” und das „weise und verständige Herz” ist das Ergebnis jenes täglichen Studiums, das eine Klärung des Denkens herbeiführt und den Wunsch und die Willigkeit erzeugt, das Leben der Führung der beweisbaren Wahrheit anzuvertrauen. Nachdem sechs Tage lang das geistige Wahrnehmungsvermögen geschärft, Mut und Hoffnung gestärkt, das Denken geläutert, der Glauben gefestigt und das Gemüt mit Liebe erfüllt worden ist, gestaltet sich der Sonntag in der Tat zu einem Tage der Ruhe, der durch Dankbarkeit für den erzielten Fortschritt verherrlicht wird. Auf diese Weise werden denkende Christen befähigt, den neuen Menschen „anzuziehen,” „der da erneuert wird zu der Erkenntnis nach dem Ebenbilde des, der ihn geschaffen hat;” und mit diesem allmählichen Vorwärtsschreiten kommt die Erkenntnis, daß die Schöpfung gut, ja „sehr gut” ist.
Wie die Jünger vor alters „einmütig beieinander” waren, so versammeln sich auch heute in allen Weltteilen Scharen von Menschen im Namen der heilenden Christus-Wahrheit — nicht eines von uns geschiedenen, abwesenden Christus, sondern des gegenwärtigen, stets wirkenden Christus. Kein Wunder, daß die Besucher solcher Gottesdienste oft während desselben geheilt werden. Auch heute können wir nach so mancher stattgefundenen Heilung sagen: „Die Kraft des Herrn war wirksam, Kranke gesund zu machen;” und was der Psalmist in vorchristlichen Zeiten sagte, bleibt durch alle Jahrhunderte hindurch unveränderliche Wahrheit: „Er sandte sein Wort und machte sie gesund und errettete sie, daß sie nicht starben.”
Ist es zu verwundern, daß Leute, die von den vielen Fällen zu hören bekommen, wo Christliche Wissenschafter Befreiung gefunden haben, von einem neuen Standpunkte aus die von dem Propheten Sacharja prophezeite Aussage tun: „Wir wollen mit euch gehen, denn wir hören, daß Gott mit euch ist”? Und so kommen sie zu den Gottesdiensten, die Niedergeschlagenen und Traurigen, die Armen, die Kummerbeladenen und Lebensmüden, um zu finden, daß sie in Wirklichkeit nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten. Indem sie dann mit der Wahrheit vertraut werden, wie sie ihnen aus der Heiligen Schrift und unserm Lehrbuch verkündet und durch Ausübung nach Art des Christus veranschaulicht wird, erschließt sich ihnen die Bedeutung der Worte, die den zur Einweihungspredigt Der Mutter-Kirche von Mrs. Eddy gewählten Text bildeten: „Sie werden trunken werden von den reichen Gütern deines Hauses, und du tränkest sie mit Wonne als mit einem Strom.”
Copyright, 1915, by The Christian Science Publishing Society
Verlagsrecht, 1915, von The Christian Science Publishing Society