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„Der Herr ist mein Fels”

Aus der Juli 1915-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Es gibt wohl in der Heiligen Schrift kein Wort, das in sinnbildlicher Anwendung eindrucksvoller wäre als das Wort „Fels.” Vor allem bedeutet es die demonstrierbare Wahrheit, die Christus-Idee. Sodann wird es oft in Verbindung mit dem besitzanzeigenden Fürwort gebraucht, um das individuelle Erfassen dieser Idee auszudrücken. Der Unterschied zwischen der einen und der andern Anwendung ist genau der Unterschied zwischen Reden und Handeln, zwischen Überzeugung und Bekehrung, zwischen der Erkenntnis der Wahrheit und ihrer werktätigen Anwendung, zwischen Sehen und Tun.

Während eines neulichen Gesprächs mit einem Doktor der Theologie fiel es dem Schreiber dieses auf, wie bereitwillig dieser Herr den grundlegenden Wahrheiten der Lehren Jesu beipflichtete, mit welcher Bestimmtheit er aber Behauptungen aufstellte, die nicht mit diesen Lehren in Einklang standen. Er erklärte unumwunden, Gott sei der unendliche Geist, es hafte Ihm nichts Unvollkommenes an, alles, was besteht, habe seinen Ursprung in Ihm und werde von Ihm erhalten, und der Mensch sei Sein Ebenbild. Trotzdem aber wollte er die Lehre von der Unwirklichkeit der Materie nicht gelten lassen und bestand darauf, daß der Mensch aus Fleisch und Geist bestehe. Er erkannte die unendliche Wahrheit und Liebe als den Felsen an, auf dem das Christentum ruhe, sprach aber sein Bedauern darüber aus, daß er keinen Teil habe an der heilenden Kraft, die diese Erkenntnis verleihen solle. Daß Gott „ein Fels” ist, und daß „seine Werke ... unsträflich” sind, gab er ohne Zögern zu, konnte aber nicht sagen: „Der Herr ist mein Fels und meine Burg und mein Erretter,” wenigstens nicht mit der erlösenden Überzeugung, von der die erhabene Erklärung des Apostels Johannes durchdrungen ist: „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden.”

Das Erfassen der göttlichen Wahrheit ist wichtig, aber ihr Anwenden ist weit wichtiger, denn nur durch diese Tätigkeit kann man das Lebensproblem lösen. Dies ist der Kern des Evangeliums, der guten Botschaft, die Christus predigte und ausübte; und dies ist auch die Lehre der Christlichen Wissenschaft, wie sie z. B. in den Worten zum Ausdruck kommt: „Die Substanz aller Frömmigkeit ist die Widerspiegelung und Demonstration der göttlichen Liebe, welche Krankheit heilt und Sünde zerstört” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 241). Irgendein Glaube, der diese Norm erreicht, steht gewiß weit unter dem Glauben, den der Apostel Paulus bewies, als er die Schlange, die ihm an die Hand gefahren war, ins Feuer schlenkerte und ihm „nichts Übles” widerfuhr. Kein geringerer Glaube entspricht den dringenden Bedürfnissen der Menschheit. Die Wahrheit ist uns allen zugänglich, wird aber für uns nur in dem Maße wirksam, wie wir sie in unser Bewußtsein aufnehmen. Gott ist nur insofern „mein Gott,” als das göttliche Leben und Gesetz in mir und durch mich kundgetan wird. Um das ewige Leben zu ergreifen, müssen wir das Wesen Gottes erkannt haben. Diese Erkenntnis allein kann die Wissenschaft des Christentums herbeiführen; nur sie kann uns von Oberflächlichkeit und Vorurteil befreien.

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