Daß das christliche Heilen ein wichtiger Teil der Betätigung des Christentums ist, wird immer mehr von den Kirchen zugegeben. Der schlagendste Beweis dafür war wohl ein in der „North American Review“ vom Dezember 1913 veröffentlichter Aufsatz aus der Feder eines Geistlichen der Bischöflichen Kirche, unter dem Titel: „Muß der Protestantismus die Christliche Wissenschaft annehmen?” Dem Redakteur dieser Zeitschrift zufolge erreichte der Schreiber die in dem Aufsatz niedergelegten Schlüsse durch „sein Wirken unter seinen eignen Leuten und durch seine Beobachtung derer, die außerhalb seiner Kirche stehen.” Es handelt sich hier also um selbstgesammeltes Beweismaterial. Vor einigen Wochen nun hat ein andrer Geistlicher der gleichen Konfession, , seine Ansichten in einem Aufsatz in der kirchlichen Zeitschrift „The Living Church“ zum Ausdruck gebracht. Wir führen aus diesem Aufsatz folgendes an:
Das stets wachsende Interesse der Christen in allen Teilen des Landes für die christliche Heiltätigkeit bedeutet eine der allerwichtigsten religiösen Bewegungen unsrer Zeit. An gewissen Orten findet der Gegenstand scheinbar wenig Beachtung; aber das hat wohl seinen Grund darin, daß in den Kirchen die Aufregung über den phänomenalen Fortschritt der Christlichen Wissenschaft sich gelegt hat, oder aber darin, daß das vor einiger Zeit so rege Streben der Kirchen, durch andre Attraktionen in der Form von Psychotherapie der Christlichen Wissenschaft entgegen zu wirken, ziemlich nachgelassen hat. Die Angriffe auf die Christliche Wissenschaft mögen vom theologischen Standpunkt aus befriedigend gewesen sein, haben aber das Verlangen der Christen nach einer heilenden Religion nicht gestillt. Dazu kommt noch ganz besonders der Umstand, daß neben solchen Angriffen nichts besseres geboten wurde, so daß sich die Zuhörer zum Schluß in derselben Lage befanden wie zu Anfang, nämlich ohne den Dienst des Heilens. Man sagte ihnen, die Christliche Wissenschaft sei gänzlich falsch, wies sie aber nicht auf das hin, was richtig ist. Wenn man nichts von nichts abzieht, bleibt wenig übrig.
So hatten also die Christliche Wissenschaft und andre religiöse Heilverfahren freies Feld und konnten ununterbrochen Heilungen ohne Medizin aufweisen, während die Mitglieder der herkömmlichen Kirchen mit einer Theologie zurückblieben, die in jeder Krankheit die Hand Gottes, das Walten Seines Willens oder Seine geheimnisvolle Absicht sah. Kein Wunder, daß unter solchen Umständen die Sekten, welche sich das Heilen zur Aufgabe machen, ihre neuen Anhänger aus den Reihen derer erhielten, die in den Kirchen geboren und aufgezogen worden. Man berechnet, daß mindestens neun Zehntel der Mitglieder dieser Sekten christlichen Gemeinden angehört haben. Sie sind übergetreten, weil diese Seite der Religion gänzlich vernachlässigt oder ihnen falsch dargelegt worden war. Und immer noch kommt ein großer Teil der stets wachsenden Mitgliedschaft von dieser Richtung. Das Missionswerk, das diese Sekten allerwärts betreiben, ist voller Hingabe und Ausdauer, und ihre Propaganda läßt eine große Freigebigkeit erkennen. Freunde und frühere Kirchenmitglieder wissen den Gegenstand sehr geschickt zur Sprache zu bringen, und einem Besuch folgen regelmäßig mehrere interessante Schriften. Tausende von Exemplaren des. Aufsatzes „Muß der Protestantismus die Christliche Wissenschaft annehmen?” von einem Geistlichen verfaßt, sind gratis an Christen im allgemeinen versandt worden, besonders aber an solche, die einer Kirche angehören.
Die Verluste in manchen Gemeinden sind durchaus nicht unbedeutend. So mancher Pastor hört mit Erstaunen, daß diese oder jene Person, bei der er nicht einmal ein oberflächliches Interesse für die Christliche Wissenschaft geahnt hatte, ein Nachfolger dieser Lehre geworden ist. Ein näheres Nachforschen enthüllt dann die Tatsache, daß die Arbeit, das Studium und der Einfluß schon vor einem oder mehreren Jahren begonnen hat und daß es nun zu spät ist, den Ausgetretenen wieder zurückzubringen. Wenn sich ein Geistlicher damit tröstet, daß die Person im Grunde genommen nur „ein sehr schwaches und ziemlich wertloses Mitglied” gewesen sei, so mag er später zu der Einsicht gelangen, daß er ein Phantom der Hoffnung verfolgt hat. Er würde wohl erstaunen, wenn er wüßte, daß das Mitglied, das er ein oder zwei Jahre lang für „wertloses Material” angesehen hatte, unter dem Einfluß der veränderten Umgebung zu neuem Leben erwacht ist, sich in seiner Lebensführung zu einer höheren Stufe erhoben hat, für seine Sache eifrig tätig ist, nicht nur die Sonntagsgottesdienste sondern auch die Mittwochabend-Versammlungen der Seite regelmäßig besucht und in einem Monat mehr Geld beisteuert als früher in der alten Kirche in einem Jahr. Ich erwähne dies nicht, um dem Mitglied das Wort zu reden, sondern ich weise nur auf eine Tatsache hin, die der ernsten Erwägung wert ist. Was ich geschildert habe, gehört nicht zu den Ausnahmen, sondern es stellt einen Durchschnittsfall dar.
Man darf natürlich die Geistlichen nicht für alle Verluste, die die Kirche erlitten hat, verantwortlich machen. Wenn man aber bedenkt, daß die meisten dieser Leute uns deshalb verlassen, weil sie nach jener Auffassung der Religion trachten, die Christus lehrte, so ist die Lage ernst genug, um uns die Frage aufzudrängen, ob die Geistlichen das ganze Evangelium predigen, und ob sie es ausüben. Selbst Christen, die in ihrem Glauben so fest gegründet sind, daß das Anziehende in der Christlichen Wissenschaft sie nicht veranlassen kann, ihre Verbindung mit der Kirche zu lösen, fühlen ein tiefes Verlangen nach der Handreichung, die die Kirche ihnen vorenthält. Ich bin im Besitz vieler Briefe von ernsten Christen, die fast verzweifeln wegen der Lauheit der Kirche im allgemeinen gegenüber diesem Gegenstand. Wie traurig ist es doch, wenn man sieht, wie weit so viele Christen von ihrem ursprünglichen Ankergrund fortgetrieben worden sind.
Das Bedürfnis des christlichen Heilens innerhalb der Kirche wird hier offen und eindringlich behandelt. In dieser Darlegung des Schreibers an seine Mitarbeiter ist von nicht geringer Bedeutung die Erklärung, die Lage sei „ernst genug, um uns die Frage aufzudrängen, ob die Geistlichen das ganze Evangelium predigen, und ob sie es ausüben.” Es steht uns natürlich nicht zu, diese Frage in ihrer Beziehung auf die besondere Kirche, zu der diese Geistlichen gehören, weiter zu erörtern. Wir können nur darauf hinweisen, daß ein großer Teil des Neuen Testaments aus Berichten über das Heilen Christi Jesu und der Urchristen besteht, und daß der Meister in nicht mißzuverstehenden Worten seinen Nachfolgern gebot, die gleichen Werke zu tun. Mrs. Eddy hat der Welt die Wissenschaft oder wahre Erkenntnis gebracht, die den Lehren unsres Meisters zugrunde liegt, und sie sowohl wie ihre Anhänger haben diese Wissenschaft demonstriert, indem sie „ununterbrochen Heilungen ohne Medizin aufweisen” konnten.
Vor vierzig Jähren äußerte sich Mrs. Eddy gerade über diesen Gegenstand mit folgenden Worten: „Wie vor alters, wird der Geist des Christus, der die Zeremonien und Lehren der Menschen hinwegnimmt, nicht angenommen, bis die Herzen der Menschen für ihn bereitet sind” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 131). Dieser Tag ist gewiß am anbrechen, denn angesichts der bestehenden Zustände wird niemand leugnen, daß die Menschheit nach der heilenden Wahrheit verlangt, nach der Wahrheit, die allein die Unruhe der Sterblichen beschwichtigen und das hungernde Herz sättigen kann. Es liegt somit jedem Christlichen Wissenschafter ob, seinem Bekenntnis in solch hohem Maße treu zu sein, und die Tatsache, daß die von Mrs. Eddy entdeckte Christliche Wissenschaft das ganze Evangelium ist, so klar darzutun, daß dieses Zeitalter die Erfüllung der Prophezeiung Mrs. Eddys schauen möge: „Christus wird dem Christentum seinen neuen Namen geben, und die Christenheit wird aus Christlichen Wissenschaftern bestehen” („Pulpit and Press,“ S. 22).
