Ein berühmter Maler hat die historische Begegnung zwischen Jesus und dem reichen Jüngling dargestellt, als dieser zum Meister kam und ihn fragte: „Was soll ich Gutes tun, daß ich das ewige Leben möge haben?” Das Bild ist mit seltener Meisterschaft ausgeführt. Die Gestalten und der Gesichtsausdruck der Hauptpersonen lassen die tiefe Einsicht des Künstlers erkennen. Aber größer als das Bild ist das Begebnis, und so bleibt trotz der Kunst des Malers und seiner sympathischen Behandlung des bedeutenden Vorwurfs dem in stiller Betrachtung versunkenen Beschauer noch so manches zur Vervollständigung überlassen.
Aus der Erzählung ist ersichtlich, daß der Jüngling Eigenschaften besaß, die zunächst Jesu Aufmerksamkeit und Bewunderung erregten. Der junge Mann hatte ein einnehmendes Äußere, besaß Geistes- und Herzensbildung, war im jüdischen Gesetz bewandert und hatte von Jugend auf die Gebote gehalten, ja noch mehr, er war auf der Suche nach dem Guten. Der Meister aber ließ jenen erkennenden Blick auf ihm ruhen, der die Oberschicht der menschlichen Natur jederzeit durchdrang und für den der darunterliegende Charakter am Tage lag. Er erkannte sofort, was seine menschliche Liebe und Sympathie erregt hatte. Doch weder die gewinnende Persönlichkeit des Fragestellers, noch seine offenbare moralische Unantastbarkeit konnten den Fehler des jungen Mannes vor den Augen des großen Lehrers verbergen, und ohne Verzug kam die Antwort: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe alles, was du haft, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!” Mit Bestürzung vernahm der Jüngling diese bestimmte Antwort und „ging traurig davon,” weil er seiner vielen Güter gedachte und an ihnen festhielt.
Des Jünglings Fehler, den das Auge des Meisters entdeckte und auf den seine Antwort deutlich hinwies, war eine falsche Anschauung von Reichtum oder Besitz. Er hatte materielle Dinge zu erwerben gesucht und dabei nicht des wahren Reichtums gedacht. Er hatte das Schattenhafte für Substanz gehalten. Materielle Güter besaß er die Fülle, doch waren dies nicht die Güter, die reich machen. Sie waren ein vorübergehender Gewinn, den ein Mißgeschick oder eine unkluge Handlung in einem Tage zunichte machen konnte. Aus der Antwort des Meisters ging klar hervor, daß der Wunsch des jungen Mannes, das ewige Leben zu haben, nicht eher in Erfüllung gehen konnte, als bis eine völlige Änderung in seiner Schätzung von Werten stattgefunden hatte. Die wahrhaft wichtigen Dinge mußten an erste Stellen treten, die rechte Anschauung von Besitz mußte vorherrschen. Des Meisters Worte: „Gehe hin, verkaufe alles, was du hast,” wurden vom Jüngling deshalb mit so traurigen Gefühlen aufgenommen, weil er glaubte, gerade das aufgeben zu müssen, was ihm für sein Glück am wesentlichsten schien. Er konnte offenbar nicht einsehen, wie der Gehorsam gegenüber der Forderung des Meisters ihm das begehrte Gut bringen sollte.
Der alte Feind, die Furcht, drang ins Bewußtsein des Jünglings — wie das ja stets der Fall ist, wenn es sich ums Geben handelt —, und er erkannte deshalb nicht, daß seine wahren Besitztümer nicht die materiellen Güter waren, die er in solcher Fülle besaß, sondern die geistigen Güter, die sein Glaube an die Wirklichkeit des Schein-Reichtums seinem Blick verhüllt hatte. Nicht als ob der Besitz von Ländereien und Gütern an sich seinem Streben nach ewigem Leben ein unüberwindliches Hindernis entgegengestellt hätte, sondern seine Annahme, daß irdische Dinge wahre und dauernde Besitztümer seien, mußte beseitigt werden, und er mußte die echten Reichtümer, die durch Haltung, Rede und Person bei ihm gewissermaßen zum Ausdruck kamen, ihrem wahren und dauernden Werte nach erkennen.
Das richtige Verständnis der Erzählungen in den Evangelien erschließt sich uns nur zum Teil, wenn wir die Anwendbarkeit der darin enthaltenen Lehren beschränken. Wer etwa denkt, die Lehre in dem vorliegenden Fall beziehe sich lediglich auf den reichen Jüngling oder auf Personen seines Standes oder seiner Lebensstellung, verliert eine überaus nützliche Lehre. Der große Lehrer sprach für alle Zeiten. Die Gleichnisse aus seinem Munde, die Taten, die er vollbrachte, haben für alle Zeiten Gültigkeit, und die in ihnen enthaltenen Lehren sind überall anwendbar. Ein jeder, der die Erzählung von dem reichen Jüngling mit offenem Sinn liest, sollte aus ihr eine nützliche Lehre ziehen können.
Man beachte, daß Jesus dem Jüngling befahl, seine Besitztümer zu verkaufen. Dies erforderte schon an sich ein großes Opfer. Doch war damit noch etwas verbunden. Er sollte seinen Reichtum den Armen geben. Nun ist aber das Wort „Arme” allmählich in seiner Bedeutung beschränkt worden, und es bezeichnet jetzt fast ausschließlich Menschen, denen es an Geldmitteln fehlt. Es hat jedoch eine umfassendere Bedeutung, und wir dürfen annehmen, daß Jesus es in dieser Bedeutung brauchte. Oft wies er darauf hin, daß man bei allem Reichtum an materiellen Gütern doch sehr arm sein kann. Der reiche Mann, der seine Scheunen abbrechen und größere bauen wollte, ist ein Beispiel.
Die Armen sind nicht nur solche, denen es an Geld mangelt, sondern auch die Mutlosen, die Unglücklichen, die Unzufriedenen, die Kranken — kurz alle, die sich in der Knechtschaft der Sünde, des Leidens oder irgendeiner der zahlreichen Formen physischer Disharmonie befinden. Sie mögen hohe Stellungen bekleiden, zeitliche Gewalt ausüben und materielle Reichtümer die Fülle haben, dabei aber großen Mangel an jenen Dingen leiden, die wahren Reichtum bilden. Hier bietet sich also ein weites und fruchtbares Feld für das gewissenhafte Wirken derer, die geistige Gaben zu verteilen haben. Sagte nicht der Meister: „Ihr habt allezeit Arme bei euch”? Aus der Antwort Jesu ist zu ersehen, daß einem feststehenden Gesetz nach Güter nicht als persönliches Eigentum angesehen werden können, sondern zur Bereicherung sowohl des Eigentümers wie der Bedürftigen angewandt werden müssen.
Besitztümer sind keine dem einzelnen gehörende Dinge. Sie gehören der Gesamtheit. Sie vermehren sich durch Gebrauch und Teilung. Die Lehrfähigkeit, die Heilkunst, der aufrichtige Wunsch, der Menschheit insgesamt wahrhaft zu dienen, das Vermögen, zur rechten Zeit ein Wort der Ermunterung oder Ermahnung, des Trostes oder der Zurechtweisung zu sprechen, der offene Sinn für das Gute und Wahre, der durch geistige Erkenntnis gekräftigt wird — dies sind wahre Besitztümer. Wenn sie dem Besitzer den vollen Segen bringen sollen, muß er sie verkaufen und den Armen geben.
Jeder von uns vernimmt das göttliche Gebot: „Gehe hin, verkaufe, was du hast.” Es ist ein Gebot, das, wenn man sich ihm gehorsam fügt, doppelten Segen bringt, indem es den Geber sowohl wie den Empfänger reicher macht. Es ist die „goldene Regel,” die in die Tat umgesetzt wird. Hierüber sagt Mrs. Eddy so schön: „Die geistig Reichen helfen den Armen in einer großen Brüderschaft, und alle haben dasselbe Prinzip oder denselben Vater, und gesegnet ist der Mensch, der seines Bruders Not sieht und ihr abhilft und das eigne Gute in dem eines andern sucht” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 518). Was in einem Menschen eine falsche Anschauung von Besitz entstehen läßt, muß zu seinem Wohl von ihm genommen werden. Ist der Besitz ein wahrer, so muß er verkauft, umgesetzt werden, weil dadurch der Verkäufer gesegnet, der Arme gefördert und der gemeinsame Schatz des Guten vermehrt wird.
Der Jüngling ging traurig davon, doch war die Lehre für ihn sicherlich nicht verloren. Ob er sich später von der falschen Anschauung von Besitz abwandte und den einzigen Weg wählte, der zum ewigen Leben führt, ist für uns, die wir heute diese Erzählung lesen, nicht eigentlich von Bedeutung. Wichtig ist aber, daß wir die Lehre erkennen, die die Erzählung enthält. Wir müssen zunächst einsehen lernen, daß Reichtum geistig ist, nicht materiell. Nachdem wir unser Denken dieser neuen Anschauung von Besitz angepaßt haben, wird es uns allmählich offenbar, daß er genau in dem Verhältnis zu seiner universellen und unparteiischen Anwendung Segen bringt und sich vermehrt.
Verleih uns Frieden gnädiglich,
Herr Gott, zu unsern Zeiten.
Es ist ja doch kein ander nicht,
Der für uns könnte streiten,
Denn du, unser Gott, alleine.
