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Aus der Knechtschaft zur Freiheit

Aus der Februar 1916-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Wir lesen im zweiten Buch Mose, daß Gott „das Volk um auf die Straße durch die Wüste” führte. Diesen Weg wären die Israeliten nicht aus freier Wahl gegangen, zumal wenn sie eine vierzigjährige Wanderung in der Wüste vorausgesehen hätten. Eine sichere Hand führte sie jedoch dem göttlichen Ziel entgegen. Es gibt wohl kaum fesselndere und lehrreichere Erzählungen als die von den Erfahrungen der Kinder Israel. Obgleich dieses Volk zum Empfang und zur Auslegung der großen Wahrheit des Monotheismus von Gott besonders auserwählt war, mußten sie doch zweihundert Jahre lang als Sklaven einem fremden Herrscher dienen; und viele von ihnen mochten wohl die Hoffnung auf Befreiung nahezu verloren haben.

Die Israeliten hatten noch nicht erkannt, daß, wenn Gottes Plan auch nicht sofort zur Ausführung kommt, er doch nicht aufgehoben ist, und daß der Gott ihrer berühmten Vorfahren — Abraham, Isaak und Jakob — Seine Verheißung nicht vergessen konnte, aus ihren Kindern ein großes Volk zu machen, das gleichsam das Behältnis des Glaubens an einen lebendigen Gott bilden und somit der Verbreitung einer götzendienerischen Religion samt ihren Bräuchen Einhalt tun sollte. Endlich kam die wunderbare Befreiung, eine Befreiung, wie sie das sterbliche Gemüt niemals hätte ersinnen oder bewirken können, und die Reise begann. Nun hätten sie von Raemses — dem Ort, wo angeblich die von Moses verrichteten Wunder auf Gottes Geheiß stattfanden —über Gaza in einigen Tagen nach Palästina gelangen können. Die Entfernung war nicht groß und der Weg leicht und sicher. Der Überlieferung nach hatte Jakob diesen, an der Küste des Mittelländischen Meeres entlang führenden Weg nach Ägypten genommen, und derselbe muß daher dem Moses und den Israeliten bekannt gewesen sein. Sie wurden aber nicht auf diese Straße geführt, weil sie durch der Philister Land ging, „denn Gott gedachte, es möchte das Volk gereuen, wenn sie den Streit sähen, und wieder nach Ägypten zurückkehren.”

Nun entsteht die Frage: Konnte Gott den Israeliten nicht damals schon zum Sieg über die Philister verhelfen, wie Er es so viele Jahre später tat? Es gab anscheinend keinen andern Weg als den oben erwähnten, und jeder Widerstand des Feindes beim Durchzug hätte überwunden werden können, wenn das Volk mit Mut und Kraft ausgerüstet worden wäre. Welchen Zweck hatte dieser Umweg? Warum mußten sie durch eine Wüste gehen, wenn sich dies vermeiden ließ? Warum wurde ihnen größeres Leiden auferlegt, als da sie in der Knechtschaft waren? Sie waren Gottes Kinder, und es stand doch zu erwarten, daß Er gnädig mit ihnen verfahren würde. Nachdem Er bei den Plagen durch die Bekundung Seiner Allmacht gezeigt hatte, daß menschliche Arglist und menschliche Anschläge keine Macht haben, daß die Künste des tierischen Magnetismus unschädlich gemacht werden, wenn das geistige Gesetz in Wirksamkeit tritt, hätte man denken können, alle Hindernisse seien nun beseitigt, und der Erfüllung der lang ersehnten Hoffnung auf Rückkehr ins Land der Väter stehe kein Hindernis mehr entgegen.

In der großen Schar von über einer halben Million Menschen mochten viele so denken. Der Auszug fand im Jahre 1491 v. Chr. statt. Es ist nun bedeutsam, daß auch jetzt noch, nach einem Zeitraum von fast zweitausend Jahren mit seinem klareren Licht und seiner größeren Entfaltung der Wahrheit, oft ähnliche Fragen gestellt werden in bezug auf Gottes Verfahrungsweise mit dem Menschen. Die Erfahrungen, Wechselfälle und Prüfungen, die die Israeliten durchmachen mußten, das Ringen mit Fleisch und Blut, der Kampf mit dem fleischlichen Gemüt und seiner ganzen Brut von selbstsüchtigen, sinnlichen Begierden — all dies wiederholt sich heute im menschlichen Leben mit einer Genauigkeit, die staunenerregend wäre, hätten wir durch die Christliche Wissenschaft nicht erkannt, wie hartnäckig der materielle Sinn an dem Glauben festhält, daß Leben, Substanz und Intelligenz getrennt von Gott, Geist, beständen.

Offenbar bedurften die Kinder Israel einiger eindringlicher Lehren, wie auch wir sie bedürfen. Auf diese Lehren haben die Worte des Moses Bezug: „Und gedenke alles des Wegs, durch den dich der Herr, dein Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, auf daß er dich demütigte und versuchte, ... auf daß er dir kundtäte, daß der Mensch nicht lebet vom Brot allein, sondern von allem, das aus dem Mund des Herrn gehet.” Dies ist sicherlich der wahre und einzige Weg des Fortschritts für Menschen und Völker. Doch wie suchen sich die Menschen gegen diese Erkenntnis zu verschließen! Sie wollen auf kürzestem Wege zum Glück gelangen und lassen dabei die Vorbereitung, die dem Empfang geistiger Wahrheit vorausgehen muß, völlig außer acht. Den Israeliten war also der nächste Weg nach Kanaan verschlossen. In den folgenden Jahren nun ergingen sie sich oft in Klagen und lehnten sich auf gegen Gott wegen der Schwierigkeiten, die sich ihnen boten und die sie überwinden mußten. Sie konnten nicht einsehen — können wir es heute immer?— daß Leiden oftmals nötig ist, um Gehorsam zu erwirken.

Das Leiden kommt nicht von Gott. Wir erkennen dies in dem Maße, wie wir in den Geist der Christlichen Wissenschaft eindringen und die wesentliche Bedeutung dieser Lehre erfassen. Ferner legt Gott der Verwirklichung Seiner herrlichen Verheißungen nichts in den Weg. Bis aber ein jeder von uns mit dem Wesen Gottes vertraut ist, bis wir dem gnadenreichen Walten der Liebe gegenüber die Empfänglichkeit kleiner Kinder bekunden, bis wir zu Füßen Christi, der Wahrheit, sitzen und an dem himmlischen Manna teilhaben, das unsre nach geistiger Nahrung schmachtenden Gemüter speist, bis wir uns bestreben, stark im Glauben zu sein, werden wir einen Erziehungsprozeß durchmachen müssen, um aus dem Mesmerismus und der Gleichgültigkeit aufgerüttelt zu werden, die dem Zauberland des Materialismus angehören.

Der Weg durch die Wüste ist der Weg der Unterweisung und Prüfung. Wir würden ihn ebensowenig wählen, wie seinerzeit die Israeliten, wenn wir den sterblichen Wünschen Gehör schenkten; doch ist dies vielleicht für dich oder für mich die einzige Art, wie wir uns des falschen Bewußtseins entledigen und die List und Schlauheit des Bösen zu erkennen vermögen. Durch die Entlarvung des Übels erweist sich das Wesen des Übels als etwas Trügerisches. Unsre Führerin sagt uns: „Es ist die Absicht der Liebe, den Sünder umzuwandeln. Wenn die Bestrafung des Sünders hienieden unzureichend gewesen ist, um ihn umzuwandeln, dann würde der Himmel des guten Menschen eine Hölle für den Sünder sein” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 35).

Vielleicht weigern wir uns, diesen Weg zu gehen, stellen uns auf einen sogenannten unabhängigen Standpunkt und wünschen zu wissen, warum wir einen solchen Erziehungsprozeß durchzumachen hätten, wo doch Gott gesagt hat, Er sei allen nahe, die Ihn anrufen, stets bereit, ihnen alles Gute zuteil werden zu lassen. Und doch ist die göttliche Liebe unser allerbester Freund und wirkt unaufhörlich zu unserm Wohl. Wenn das Himmelreich jetzt vorhanden ist, wie Jesus erklärte, was hindert uns dann daran, uns durch ernstliches Streben seiner reichen Segnungen teilhaftig zu machen? Die Antwort ergibt sich aus der menschlichen Erfahrung; sie lautet: Nichts andres als unsre eignen falschen Vorstellungen.

Wenn wir den höchsten geistigen Begriff vom Wesen Gottes erlangt haben, wenn wir Ihn als ewiges Leben, als Wahrheit und Liebe erkennen, wenn wir uns gerne Seinem Willen fügen, und wenn es unsre innerste Überzeugung ist, daß „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen,” dann wird uns der Weg nach dem Kanaan unsres geistigen Erbes — das Land, da im geistigen Sinne Milch und Honig fließt — nicht versperrt sein. Die Wahrheit wird wenigstens einige der hinderlichen Irrtümer beseitigt haben, und das Licht der Wahrheit wird dem geistigen Blick hell aufgehen.

Welch geistiger Reichtum wartet doch aller Kinder Gottes! Und welch schwache Vorstellung haben wir davon! Wir wollen uns freuen, daß es so viel Ermutigendes gibt, wollen der liebevollen Führung gedenken, die den Israeliten zuteil wurde. „Der Herr zog vor ihnen her, des Tages in einer Wolkensäule, daß er sie den rechten Weg führte, und des Nachts in einer Feuersäule, daß er ihnen leuchtete, zu reisen Tag und Nacht.” Es gab nicht zwei Säulen, sondern nur eine — das sichtbare Zeichen von Gottes Gegenwart. Während des Tages war die Wolke ein Führer und diente dem Volk als Schutz vor der Sonnenhitze. Des Nachts wurde sie leuchtend und war der großen Menschenschar sichtbar. Während der ganzen vierzig Jahre ward sie nicht hinweggenommen. Nichts vermag die Milde, Barmherzigkeit und ruhige Führung der göttlichen Liebe besser zu veranschaulichen als diese Säule. Welche Treue sprach sich in dieser Führung aus! Sie versagte nie, selbst dann nicht, als die Israeliten ihre Segnungen vergaßen und sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnten.

Indem wir diese Geschichte lesen, wundern wir uns, daß das Volk so undankbar sein konnte, dieses Volk, das nach der Befreiung aus der Knechtschaft des Pharao jubelnd gesungen hatte: „Herr, wer ist dir gleich unter den Göttern? Wer ist dir gleich, der so mächtig, heilig, schrecklich, löblich und wundertätig sei?” Und gab Gott nicht etliche Tage später die Verheißung, die jetzt durch das Kommen der Christlichen Wissenschaft so herrlich erfüllt worden ist: „Ich bin der Herr, dein Arzt”?

Aber und abermal tat sich diesen Pilgern in der Wüste die göttliche Allmacht kund. Sie kamen an Orte, wo es Brunnen gab und Palmbäume. Während all der Jahre ihrer Wanderschaft aßen sie täglich das Manna. Sie erlebten oftmals Befreiung aus Feindeshand, die nur auf göttliche Hilfe zurückgeführt werden kann. Es wurden ihnen Gebote gegeben, die seither die Grundelemente der Gesetze aller Völker auf Erden gebildet haben und die aller wahren Religion zur Grundlage dienen, ja zum Wesen derselben gehören. Wie erhebend wirkt doch die Erzählung des Auszugs! Sie versinnbildlicht die Reise aus der Knechtschaft des sterblichen Sinnes zur Freiheit des geistigen Verständnisses, die Reise, die jeder Sterbliche machen muß.

Fürchten wir die Erziehungsmittel der Liebe? Dann laßt uns erkennen, daß sie wohltätig sind — nicht notwendigerweise im Sinne einer Bestrafung, sondern einer Besserung —, daß sie erzieherisch wirken und unsern Sinn klären. Befreiung von den Banden der Sünde, aus der Knechtschaft der körperlichen Täuschungen, von den Fesseln überlieferter Falschheiten — das ist das Leuchtfeuer, das jeden anzieht, der sich hilfesuchend der Christlichen Wissenschaft zuwendet. Vielleicht sehen wir das Licht nicht sofort, erkennen nicht, was uns wirklich not tut. Wir fühlen vor allem das Bedürfnis nach Erlösung von physischen Leiden, von Furcht und Verzweiflung oder von Sorgen im häuslichen oder geschäftlichen Leben. Nachdem wir dann Befreiung erfahren haben, sind wir voller Freude. Es mag von einer Wüste nichts zu sehen sein. Wir sind fröhlich und getrost und glauben, daß jetzt alles gut sei. Es ist anscheinend so leicht, sich der Gegenwart und Macht des unendlichen Gemüts bewußt zu werden, von dem wir überall und jederzeit regiert werden, so leicht, zu glauben und die Gewißheit zu hegen, daß die Christliche Wissenschaft, diese wunderbare Offenbarung der Wahrheit, die allen Irrtum vernichtet, unser unveränderlicher Freund durchs Leben sein wird und uns niemals genommen werden kann. Wie drängt es uns, andern den Weg zu weisen, damit sie sich mit uns darüber freuen können, daß die „eine köstliche Perle” doch nicht nur ein Erzeugnis der Phantasie ist, sondern die erstrebenswerteste aller Segnungen in der Welt.

Wie oft haben wir später darüber nachgedacht, warum wir nicht auf dieser Höhe mit unserm Heiland, mit Christus, der Wahrheit, verweilen konnten! Bald erfahren wir aber den Grund. Wir müssen unsre Pilgerfahrt in der Richtung der geistigen Erziehung unternehmen, nicht in der des sterblichen Begehrens. Unsre Freude muß einen festeren Grund haben als einen bloßen flüchtigen Blick auf die Schätze der göttlichen Liebe. Die Wüste muß erst durchschritten werden — jener „Vorhof, in welchem der materielle Sinn der Dinge verschwindet und der geistige Sinn die großen Tatsachen des Daseins zur Entfaltung bringt” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 597).

Wir wollen darüber nicht klagen, sondern fröhlich und getrost sein und Dank sagen für das Glück, Pilger sein zu dürfen, sowie für die Erkenntnis, daß das Gute, das wir bereits gesehen haben, nur eine Vorahnung der großen Entfaltung der unendlichen Liebe ist, die uns entgegenkommt. Die „Wüste,” die die Israeliten durchzogen, war nicht überall öde und trocken. In einem seiner schönsten Lieder singt David (95. Psalm) von „Weiden in der Wüste” und Angern „voll Schafe,” und gibt uns somit ein Bild von den herzerquickenden Oasen — den Sinnbildern des Lichts und der Freude, die dem Christlichen Wissenschafter zuweilen unerwartet winken, während sich sein Bewußtsein über den Traum der Sterblichkeit erhebt und er anfängt, geistig zu wachsen und zu erstarken.

Was bedeutet dies anders, als daß wir unser rechtmäßiges Erbe der Freiheit allmählich antreten? Wir lesen nirgends, daß mentale Gefangenschaft dem Willen Gottes gemäß wäre. Nur sterbliche Unkenntnis ist es, die so viele im Ägyptenland der Finsternis und des Leidens zurückhält. Jesus, unser großer Wegweiser, hat uns gezeigt, wie wir dadurch, daß wir Gott in uns und für uns wirken lassen, Sünde, Krankheit und unharmonische Zustände jeder Art bezwingen können. Wenn wir den Fußtapfen des Meisters folgen, gilt uns die bestimmte Verheißung (die ja schon durch den herrlichen Triumph der Wahrheit, wie die Christliche Wissenschaft sie lehrt, zur Genüge bestätigt worden ist), daß wir in die Freude des Herrn eintreten. „Wer mir [der Wahrheit] nachfolget, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.” Wir dürfen daher sicher darauf rechnen, daß Vertrauen auf Gottes Führung stets Erleuchtung des geistigen Sinnes bedeutet, gefolgt von der Herrschaft über alles, was unwirklich und zeitlich ist —über alles, was anscheinend dem Glück und Frieden entgegenstrebt.

Copyright, 1916, by The Christian Science Publishing Society
Verlagsrecht, 1916, von The Christian Science Publishing Society

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