Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Gefühl gehabt, daß es irgendwo jenseits ihres begrenzten Wissens, jenseits des Horizonts des Sichtbaren ein höchstes Wesen oder einen Schöpfer geben müsse, der alles gemacht hat, „was gemacht ist,” und daß ein Verständnis des Schöpfers Glück und Frieden herbeiführen würde. Dieses Verständnis suchte sie auf die verschiedenste Art und Weise zu erlangen: durch Zauberei, Hexerei, Wahrsagen, feierliche Bräuche und Zeremonien. Ihr Hoffen ließ sie aufwärts blicken und war die Triebkraft zu weitgehenden abstrakten Betrachtungen. Von allen Geschöpfen, die die Erde bewohnen, ist der Mensch das einzige Wesen, das nach oben schaut.
Bei allem Fortschritt, den die Menschheit gemacht hat, ist das Verlangen nach beweisbarer Kenntnis die eine treibende Kraft gewesen. Diesem Verlangen verdanken wir unsre Befreiung von Sklaverei, Rohheit und Grausamkeit. Es ist bei den verschiedenen Völkern in verschiedener Weise zum Ausdruck gekommen, durch den Götzendienst der Heiden wie durch die Gottesverehrung des Christen. In allen Fällen trug es dazu bei, die Menschheit der endgültigen und vollständigen Befreiung näher zu bringen. Dieses Verlangen ist von jeher die Bedingung zum Fortschritt gewesen. Es hat das Denken über die materielle Daseinsstufe erhoben, hat den sterblichen Menschen aus einem selbstsüchtigen Tier in ein Weltenwesen umgewandelt, in ein Wesen, das mit dem allgemeinen Leben und Denken Fühlung hat.
Durch die Betätigung der Vernunft entwickelt sich das Denken von einem Zustand blinden Glaubens zu einem allgemeinen Verlangen nach wahrer Weisheit. Das Studium der Naturwissenschaften und das Sichaneignen von Kenntnissen betreffs physischer Dinge ist sowohl nützlich als wichtig, und zwar nicht nur, weil es die Gewohnheit zerstört, das als wahr anzunehmen, was nicht bewiesen ist, sondern auch, weil die Menschheit allein durch das Erlangen höherer Ideale in das Reich der geistigen Wirklichkeit gelangen kann. Der Fortschritt ist auf die Weise gesichert, mag auch der Gegenstand unsres Forschens vorderhand unser Fassungsvermögen übersteigen. Dieses Verlangen nach Kenntnis hat viele religiöse Begriffe und Theorien beseitigt, denen die Menschen früher anhingen und zu deren Stützung sie sogar ihre Freiheit und ihr Leben opferten.
Allmählich ist die Welt dazu gekommen, Gott als die alleinige Ursache und den alleinigen Schöpfer anzuerkennen, wie das Volk, dessen Geschichte ein Wunder der Zeiten ist, Ihn verkündete. Die Anschauung, welche die Israeliten vom Schöpfer hatten, war jedoch in mancher Hinsicht der ihrer Zeitgenossen nicht unähnlich. Sie erkannten nicht die enge Beziehung Gottes zur Menschheit im allgemeinen, sondern glaubten, daß Er der Gegner eines jeden Feindes des auserwählten Volkes sei. Sie gingen sogar so weit, daß sie den Berg Sinai als Seinen Aufenthaltsort bezeichneten und glaubten, Er habe sich nach ihrer Befreiung an einen entlegenen Ort zurückgezogen, wo Er nun als Richter fungiere. Indem die Welt dieser Vorstellung von Gott beistimmte, nahm sie auch den Glauben an, daß Seine Macht sich bloß auf eine beschränkte Zeit und einen kleinen Teil der Erde erstrecke.
Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß die Menschen nicht zögern, Vernunftschlüsse und Beweise anzunehmen, solange sich diese auf weltliche Dinge beziehen, ja sie geben ohne Zögern Theorien und Gewohnheiten auf, denen sie seit langen Jahren angehangen haben. Sobald es sich aber um religiöse Dinge handelt, sind sie sehr schwer vom alten abzubringen. Dieses Zögern wird jedoch weniger allgemein, und viele, die sich von der christlichen Lehre abwenden, weil von ihnen verlangt wird, diese blindgläubig anzunehmen, erforschen sie nun mit Interesse, indem sie gelernt haben, daß das Christentum Wissen und Verständnis zur Grundlage hat, und daß ein greifbarer Beweis von der Richtigkeit dieses Verständnisses hier und jetzt erlangt werden kann. Man beginnt einzusehen, daß das Gesetz von Ursache und Wirkung in der Religion ebensogut Anwendung findet als auf irgendeinem andern Gebiet; und die Erkenntnis, daß Gott auf ewig unendlich und unveränderlich ist, führt zu der Einsicht, daß diese Wahrheit schon jetzt in menschlichen Angelegenheiten ein wichtiger Faktor ist oder sein sollte.
Bewußt oder unbewußt hat man immer erkannt, daß der Gedanke kraftwirksam ist. Wie wir aus dem ersten Kapitel des ersten Buchs Mose ersehen, ist der Mensch das direkte Ergebnis von Gottes Gedanken, und in heutiger Zeit wird die Macht des Denkens mehr und mehr anerkannt. Man beginnt einzusehen, daß unser ganzes Wissen das Ergebnis eines Gedankenvorgangs ist. Bei unserm Bestreben, die Christliche Wissenschaft auf die täglichen Probleme anzuwenden, ist es notwendig, die Tatsache erkennen zu lernen, daß alle Ursache und Wirkung mental und nicht physisch ist. Gerade hier gehen viele fehl, denn in ihrem Bestreben, abnorme Zustände zu berichten, setzen sie ihr Vertrauen auf die Kraft des sterblichen Gemüts. Sie glauben an Willenskraft und versuchen oft, sich selbst oder andern eine Entscheidung aufzudrängen. In solcher Weise auf die Willenskraft zu bauen, ist ein fruchtloses Unternehmen, denn der Strom kann nicht höher steigen als seine Quelle.
Vor beinahe neunzehnhundert Jahren sagte Jesus von Nazareth zu dem um ihn versammelten Volk: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch.” Der Christlichen Wissenschaft blieb es vorbehalten, eine vollkommen vernunftgemäße, logische und beweisbare Erklärung dieses Ausspruchs zu liefern. Dieser Lehre gemäß ist das Reich Gottes nicht eine Örtlichkeit, sondern ein Bewußtseinszustand, d. h. jener Bewußtseinszustand, der nur das als wahr anerkennt, was im göttlichen Gemüt besteht und demselben entspringt. Daß die fünf physischen Sinne vom Geist keine Kenntnis nehmen können, macht die Schrift völlig klar. Das Auge hat Gott nicht gesehen, noch hat das Ohr Seine Stimme vernommen; daher sind die Sinne nicht imstande, von dem, was nicht materiell ist, Zeugnis abzulegen.
Der Schüler der Christlichen Wissenschaft macht nicht den nutzlosen Versuch, durch die materiellen Sinne eine Erkenntnis geistiger Wahrheiten zu erlangen. Er weiß, daß es des Menschen Aufgabe ist, die Fülle und Herrlichkeit des Geistes, seines himmlischen Vaters, zu erfassen und widerzuspiegeln. In der Anwendung dieser Lehre auf physische Disharmonie befaßt er sich nicht mit dem Körper oder einem Teil desselben, sondern mit mentalen Zuständen. Die Schrift erklärt, Gott sei unser Leben, und wenn wir die Voraussetzung von der Allmacht Gottes als wahr anerkennen, so folgt daraus, daß überall, wo Leben zum Ausdruck kommt, Gott sein muß, und daß dieses Leben nichts umfaßt, was nicht in der großen Ursache, deren Widerspiegelung es ist, seinen Ursprung hat. Indem wir mehr nach innen schauen statt nach außen, können wir gar manche Vorstellung von der Wirklichkeit gottunähnlicher Zustände berichtigen und überwinden.
Paulus, der tapfere Apostel, sagt: „Ich vergesse, was dahinten ist, ... und jage — nach dem vorgesteckten Ziel — nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu.” Mit dem Vergessen der Dinge, die „dahinten” sind, ist nicht eine duldsame oder nachlässige Haltung gegenüber dem Übel gemeint. Es will heißen, daß wir den Dingen voll ins Gesicht schauen, unsre Fehler einsehen lernen und uns die Lehren, die wir erhalten haben, zunutze machen sollen. Indem wir die tote Vergangenheit ihre Toten begraben lassen, denken und handeln wir von dem neugewonnenen Standpunkt aus und finden so die Befreiung aus den Banden von gestern, wodurch uns geholfen wird, auch der Tyrannei von heute zu entrinnen. Jedes große Werk, das die Menschen je vollbracht haben, war das Ergebnis eines beständigen Beharrens auf ein und demselben Vorhaben. „Nach dem vorgesteckten Ziel” jagen heißt, mit voller Energie auf einen bestimmten Zweck hinarbeiten.
Mit dem zu erlangenden „Kleinod” meinte der Apostel Paulus das Gesinnetsein, „wie Jesus Christus auch war,” und dieses Kleinod müssen sich alle Menschen zu eigen machen, bevor sie dem großen Vorbild nachfolgen können. Um sich eine Erkenntnis oder ein Verständnis dieser Gesinnung anzueignen, ist es nicht nötig, daß man sich mit Mauern umgebe oder sich von seinen Mitmenschen fernhalte. Tatsächlich kann man auf diese Weise das Ziel, wonach man trachtet, nicht erreichen; denn was man nicht im täglichen Leben zu prüfen Gelegenheit gehabt hat, ist von geringem Wert. Die geistige Gesinnung unsres Meisters erlangt man am ehesten durch Erfahrung, d. h. indem man mit Zuständen aller Art in Berührung kommt und sie vom Standpunkte der Wahrheit aus beurteilt. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, in allen Fällen dem Widersacher ohne Zögern entgegenzutreten. Man muß Vorkommnisse und Zustände, denen man im täglichen Leben begegnet, sofort im rechten Lichte sehen können.
Der Apostel gibt uns allerdings die Ermahnung: „Darum gehet aus von ihnen und sondert euch ab;” aber aus den Lehren unsres Meisters geht klar hervor, daß es das falsche Denken ist, von dem man sich losmachen soll. Jesus maß diesem Umstand große Wichtigkeit bei. In mindestens zwei Fällen gab er deutlich zu verstehen, daß das Sündigen ein gedanklicher Vorgang ist. Er sagte, wer einen ehebrecherischen Gedanken hege, habe schon Ehebruch begangen, und ein andermal erklärte er, die bösen Gedanken, die aus dem Herzen kommen, seien die Vorläufer von allerlei Sünden. Im Lichte der Christlichen Wissenschaft bekommt deshalb das Wort „Ehebruch” eine neue Bedeutung, denn es bezieht sich auf einen gedanklichen sowohl als physischen Zustand. Es ist somit klar, daß es auch eine Sünde ist, den Begriff der Allheit des Geistes mit der geringsten Annahme, daß sein Gegensatz, die Materie, wahr sei, zu beflecken. Abgesondert sein bedeutet also, sich einer mit der Norm des Geistes anstatt mit den allgemein herrschenden Ansichten der Menschen in Einklang stehenden Denkweise zu befleißigen.
Unsre Führerin sagt: „Aberglaube und Verständnis können sich niemals vereinigen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 288). In dem Maße, wie wir uns dem einen zuwenden, verlieren wir das andre aus dem Auge. Dies ist ein Punkt von größter Wichtigkeit in der Christlichen Wissenschaft, ein Punkt, dessen volle Bedeutung die Menschen im allgemeinen, ja selbst manche erklärte Anhänger der Christlichen Wissenschaft nicht erfaßt haben. In dieser Wissenschaft sind alle Erscheinungsformen des Aberglaubens ganz und gar ausgeschlossen. Jede religiöse Gedankenrichtung, ob alt oder neu, enthält in geringerem oder höherem Maße irgendein Stück Aberglauben — den Glauben an das Vorhandensein von etwas übernatürlichem, das die menschlichen Angelegenheiten entweder wohltätig oder nachteilig beeinflußt.
Die Christliche Wissenschaft bringt uns die Erkenntnis, daß es nur ein wahres Selbst gibt, die Idee Gottes, und daß dieses Selbst nicht nur das Zwischenmittel ist, durch welches sich die große Ursache kundtut, sondern daß es auch zur Wiederspiegelung dieser Ursache absolut notwendig ist. Dieses wahre Selbst kann somit von nichts anderm beeinflußt werden als von jener großen Ursache; auch kann es nur einen Einfluß geben, nämlich dm des göttlichen Gemüts, und dieser Einfluß muß immer gut sein. Er kommt in allen Menschen in dem Maße zum Ausdruck, wie sie sich seiner Gegenwart und seiner Wirkung bewußt sind.
Wie oft ist es doch in der Geschichte der Menschheit vorgekommen, daß falsche Vorstellungen die Handlungen der Menschen beeinflußt, eingeschränkt und regiert haben! Jahrhundertelang glaubte man, die Erde sei flach, mit dem Ergebnis, daß die Menschen innerhalb einer begrenzten Fläche lebten und sich zu Wasser und zu Land nicht über die bekannten Grenzen hinauswagten. Obschon man allgemein an diesem falschen Begriff festhielt, wurde doch zuletzt bewiesen, daß die Erde eine Kugel ist, und daß ihre Gestalt trotz der allgemeinen Vorstellung nie anders war als kugelförmig. Die Wahrheit blieb immer Wahrheit. Die Christliche Wissenschaft sagt nicht, Disharmonie sei Einbildung, wohl aber behauptet sie, daß ein falscher Begriff von der Wirklichkeit Disharmonie als wirklich erscheinen läßt, und daß die Menschen Falschheiten nie wahr machen können, wie lange sie auch an denselben festhalten. Vom Standpunkte der Christlichen Wissenschaft aus betrachtet sind der physische Körper und die menschlichen Zustände nur vergegenständlichte falsche Vorstellungen seitens der Menschheit im allgemeinen von dem wahren Selbst und den wahren Zuständen, welche dieses wahre Selbst zu erkennen vermag.
Ein Verständnis des innigen Verhältnisses zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer ermöglicht es uns, in gewissem Maße zu verstehen, warum Jesus so großes Gewicht auf die Vaterschaft Gottes legte, und führt zu der Erkenntnis Seiner liebevollen Fürsorge. Das Studium der Christlichen Wissenschaft gibt uns wohl einen von der allgemein herrschenden Ansicht entschieden abweichenden Begriff von Gott, ersetzt aber dadurch die alten, von Furcht durchwirkten Anschauungen durch die trostreiche Erkenntnis der allumfassenden Liebe Gottes, und bringt uns in ein engeres und vertraulicheres Verhältnis zu unserm himmlischen Vater.
