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Unsre Tagesarbeit

Aus der Februar 1916-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Die Menschen haben von jeher an ein höheres Wesen geglaubt, und die meisten haben der Erklärung beigestimmt, daß Gott gut ist. Dies ist die Lehre des Christentums. Die meisten Christen glauben jedoch an die Wirklichkeit der Macht des Bösen. Sie meinen, in unsrer Zeit sei das Böse dem Guten oft überlegen, und der Mensch könne daher nur durch ein zukünftiges Eingreifen Gottes von jener Macht befreit werden. Der Optimist erhofft das Beste; aber er hat oft kein wirksameres Mittel gegen Kummer und Not als die Hoffnung, daß auf den Regen Sonnenschein folgen werde. Der Verhängnisgläubige bekennt sich zu einem guten Gott, faltet aber die Hände und hält all das Böse, von dem die materiellen Sinne zeugen, für eine Schickung Gottes. Irrtümlicherweise ist die Christliche Wissenschaft beiden dieser Lehren gleichgestellt worden, und zwar hat man gewisse mißverstandene Aussagen Jesu als Beweis einer solchen Ansicht angeführt. So zitiert man z.B. gerne Jesu Antwort auf der Jünger Frage, warum ein gewisser Mann blind geboren sei: „Daß die Werke Gottes offenbar würden an ihm;” ferner seine Erklärung, daß die Krankheit des Lazarus „zur Ehre Gottes” diente.

Von allen Menschen war Jesus dem Bösen gegenüber gewiß am wenigsten gefügig und gleichgültig. Die wunderbare Geschichte von der Auferweckung des Lazarus lehrt weder eine unabsichtliche noch eine absichtliche Vernachlässigung der menschlichen Notdurft. Als Jesus von der Krankheit des Lazarus benachrichtigt wurde, war er, wie immer, mit der Ausübung des ihm vom Vater anvertrauten Amtes beschäftigt. Der Bericht, den wir über dieses Ereignis haben, besagt nicht, daß er in den Tagen, ehe er an das Grab seines Freundes kam, etwas Ungewöhnliches getan hätte. Durch Worte wie durch Heilungen suchte er dem Volk ein Verständnis von dem wahren Wesen des Lebens beizubringen. Nur wenige von ihnen kosteten die Krümchen des geistigen Brotes, das er austeilte; die meisten gingen ungesättigt und unerleuchtet ihres Weges.

Als die trauernden Freunde Jesu ihm die Kunde von der Krankheit des Lazarus sandten, sah der Meister sofort die Sachlage im Lichte der Wahrheit, wie wir es auch heute in der Christlichen Wissenschaft tun lernen. Er vergegenwärtigte sich, daß sein Vater überall die einzige Macht ist, es also auch in jenem Haushalt war. Sodann wußte er, daß Lazarus unter der Fürsorge der immergegenwärtigen Liebe stand. Weil er Gott als die Quelle alles Lebens erkannte, war er sich auch der Unsterblichkeit des Menschen, des Ebenbildes Gottes, bewußt. Deshalb fuhr er in seiner Arbeit ruhig weiter; er sprach zu den Leuten über die Anfangsgründe der Wahrheitslehre, wie er dies so oft Lazarus und seinen Schwestern gegenüber getan hatte. Wenn diese Freunde ihn besser verstanden hätten, so wären ihnen die Krankheit, der Schrecken und das angstvolle Anrufen der Freundschaft Jesu sowie die Erfahrung von Tod und Verlust erspart geblieben. Er kannte den wahren Sachverhalt besser als der Bote und fuhr ruhig, liebevoll und in wissenschaftlicher Weise in seiner Tagesarbeit fort. Er zögerte nicht, noch beeilte er sich. Er war weder beunruhigt, noch kam er in Versuchung, etwas Auffälliges zu tun, sondern verrichtete einfach seine ihm vom Vater angewiesene Arbeit.

War Jesus ob dem Zustand seines Freundes irgendwie besorgt? Falls eine Anwandlung von menschlicher Liebe ein solches Gefühl für einen Augenblick aufkommen ließ, so wandte er sich gewiß sofort mit einem Gebet der Wahrheitsbekräftigung an seinen Vater, worauf er die Zusicherung erhielt, daß nichts zu befürchten sei, und daß er in seiner Arbeit fortfahren solle. Als er dann den Ort erreichte, wo in den Augen der andern der Tod ein Opfer verlangt hatte, war die Kundwerdung der göttlichen Macht in der Tat „zur Ehre Gottes” und überstieg bei weitem die Hoffnung jener Kleingläubigen, die den Meister hatten kommen lassen. Obschon der Glaube des Schwesternpaares zu sagen vermochte: „Wärest du hie gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben,” so war doch jetzt die persönliche Gegenwart Jesu nötig, und zwar ohne Verzug, denn sonst hätte selbst er möglicherweise das Übel nicht mehr bewältigen können. Auf Seite 75 von Wissenschaft und Gesundheit sagt Mrs. Eddy: „Hätte Jesus geglaubt, daß Lazarus in seinem Körper gelebt hätte oder in demselben gestorben wäre, dann hätte der Meister auf derselben Ebene der Annahme gestanden, wie diejenigen, die den Körper begruben, und er hätte diesen Körper nicht wieder ins Leben zurückrufen können.”

Wir brauchen nicht anzunehmen, daß Jesus den Ausgang des Vorfalls genau voraussah. Seine Antwort, daß der sogenannte Tod seines Freundes „zur Ehre Gottes” gereichen würde, gründete sich auf die Erkenntnis, daß alle Dinge Gott zur Ehre gereichen, daß jede Begebenheit, wenn ihre geistige Bedeutung verstanden wird, die Macht der Liebe kundtut, und daß, solange er die klar vor ihm liegende Pflicht tue, er und andre diese Ehre sicherlich sehen würden. Auch heute, wo das Gute vom Bösen so oft in die Flucht geschlagen zu sein scheint, können wir mit dem Auge des erleuchteten Glaubens sehen, daß nichts wahr und wirklich ist als die Ehre, die Herrlichkeit Gottes. „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe,” dies war des Meisters Richtschnur. Sein beständiges Hören auf die Stimme Gottes ermöglichte es ihm, seine tägliche Arbeit in aller Ruhe zu verrichten und den Freund in der Obhut der allgegenwärtigen Liebe, unter dem Schutz seines Vaters zu lassen. Wußte er doch, daß Gott Seinen Kindern ewiges, unantastbares Leben beschieden hat.

Die Tränen, die Jesus in die Augen traten, als er am Grabe seines Freundes stand, des Mannes, den seine Angehörigen gestorben wähnten, den unser Meister aber als ebenso lebendig wie ehedem erkannte, mögen eine ähnliche Ursache gehabt haben wie die schweren Tropfen, die im Garten Gethsemane von seiner Stirn auf die Erde fielen. Vielleicht sah er in dem Tod und der Auferweckung des Lazarus einen Hinweis auf sein bevorstehendes bitteres Leiden und den Höhepunkt seines Lebenswerkes: die Überwindung des Hasses, welchen die Welt gegenüber der Wahrheit hegt. Wahrscheinlicher ist es jedoch, daß es Tränen der Freude waren ob dieser neuen Belohnung für sein Vertrauen auf die göttliche Liebe, Tränen der Dankbarkeit für die ihm vom Vater verliehene Weisheit, welche seine Gedanken und Handlungen in Einklang mit der stets gegenwärtigen Liebe brachte und es ihm dadurch ermöglichte, der Versuchung zu widerstehen, die Furcht und Trauer um ihn her mitzuempfinden und somit seine Aufgabe zu vernachlässigen. Deshalb konnte er auch sagen: „Ich weiß, daß du mich allezeit hörest,”— konnte mit frohem und dankbarem Herzen Lazarus gebieten, aus dem Grabe zu kommen.

Jesu einzigartiges Verständnis der großen, grundlegenden Wahrheiten des Seins war eine ungeheure Macht, welche während jener Tage durch das gewissenhafte Verrichten scheinbar unwichtiger Arbeit zum Ausdruck kam: durch das ruhige Verfolgen seines Weges; durch das Wiederholen der so oft gelehrten, einfachen Wahrheit; durch das geduldige Beantworten oft unnötiger, nicht zur Sache gehöriger Fragen; durch das Heilen von Krankheit, wo der Geheilte die ihm erwiesene Wohltat ohne Dank dahinnahm; durch das Mitteilen liebevoller Worte und Gedanken an diejenigen, die der Botschaft, dem Botschafter und dessen Mission mit Unglauben und Verdacht begegneten. Ferner war die Botschaft der Maria und Martha dazu angetan, in ihm nicht nur Trauer um seinen Freund zu erwecken, sondern auch ein Gefühl der Befriedigung anzuregen ob seiner Fähigkeit, den Kummer der von ihm persönlich Geliebten zu stillen, und sich in ihrer Dankbarkeit und ihrem Wohlwollen zu sonnen, anstatt da zu verweilen, wo ihm Verständnislosigkeit und Unwissenheit, ja vielleicht sogar Widerspruch und Schmähung entgegentraten. Aber gewissenhaft kam er seiner Pflicht nach.

Jesu Bewußtsein war mit der ewigen, stets wirkenden Allmacht Gottes erfüllt; deshalb erkannte er alle Ansprüche auf materielle Macht als Trugbilder und falsche Vorstellungen. Bei einer späteren Gelegenheit, als er dem Willen Gottes ebenso gehorsam war, und als er sich ebenso fest auf die Wahrheit verließ wie damals auf dem Wege nach Bethanien, konnte er kraft dieses Verständnisses mit der größten Seelenruhe zu Pilatus sagen: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre von obenherab gegeben.” Er wußte, daß alle Macht von Gott kommt; ferner, daß Pilatus und seine Mitwelt an persönliche Macht glaubten, an die Macht des römischen Kaiserreichs, seiner Statthalter, seiner Priester, daß aber trotz dieser Vorstellung die Liebe, sein himmlischer Vater, der Vater des Lazarus, die einzige Macht im ganzen Weltall ist. Er erkannte, daß es nichts gibt, was das Wirken der Liebe aufzuheben vermag, daß der Tod nicht das Erzeugnis der Liebe ist, und daß deshalb weder der Tod noch irgendein andres Übel Gewalt über denjenigen haben kann, der das Wesen der Allmacht und seine Beziehung zu ihr erfaßt hat.

Jesus war sich wohl bewußt, daß die persönliche Macht, welche Pilatus zu besitzen schien, sich in Wirklichkeit der göttlichen Macht nicht zu widersetzen vermochte, wenngleich Pilatus den Begriff Macht sinnlich auffaßte und ihn somit verkehrte. Ferner erkannte der Meister, daß ein solcher Irrtum, in welcher Gestalt er sich auch kundtue, nichts vermag als sich selbst zu zerstören; daß der Irrtum nie über die Zerstörung seiner selbst in der höchsten Form seiner Annahme als materieller Körper oder vergängliches Leben hinausgehen kann, und daß er daher das Leben des Menschen als die Idee Gottes unberührt und ungeschält laßt.

Wäre Jesu Erkenntnis der Sachlage weniger klar, weniger wissenschaftlich genau gewesen; hätte er die vor ihm liegende Arbeit vernachlässigt, um seinem Freund, der in Gefabr zu sein schien, zu Hilfe zu eilen; wäre sein Vertrauen auf Gott weniger fest gewesen; kurz, hätte er der Botschaft der beiden Schwestern Glauben geschenkt, dann wäre er nicht imstande gewesen, Lazarus vom Tode zu erwecken. Er mußte den Anforderungen jenes Tages „an dem Ort, da er war,” gewissenhaft nachkommen, denn sonst hätte er auch den Anforderungen der darauffolgenden Tage nicht nachkommen können. Dies ist die Lehre, die uns die christlich-wissenschaftliche Auslegung dieser Geschichte nahelegt. Wenn es sich denken ließe, daß der Meister nicht imstande gewesen wäre, seinen Freund vom Tode zu erwecken, so könnte man konsequenterweise annehmen, daß er seinen Jüngern den Körper, dessen Leben die vermeintliche Macht der Henkersknechte auf Golgatha nicht zu zerstören vermochte, nicht wieder hätte vor Augen führen können.

Ein klares Verständnis der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus wirkt Wunder. Es fördert uns in unserm Streben, hier auf Erden ein Leben zu führen, das mit dem göttlichen Willen in Einklang steht. Wir müssen einsehen lernen, daß die Arbeit eines Tages weder wichtiger noch unwichtiger ist als die eines andern, und daß geistige Macht auch in der Ausübung dessen zum Ausdruck kommt, was einfach und niedrig zu sein scheint, wenn man nur überzeugt ist, daß das Werk in Übereinstimmung mit Gottes Willen und Seinem Gesetz geschieht. Es gibt keinen Tag, an dem die göttliche Wahrheit nicht allmächtig wäre, an dem sich die geringste Handlung auf eine andre Grundlage stützen könnte. Der erwähnte Vorfall im Leben Jesu hebt offenbar die grundlegende Wahrheit hervor, daß „jetzt ... die angenehme Zeit” ist, und daß diese Wahrheit das Verständnis in sich birgt, auf der die Erlösung der Welt beruht.


Dem Nächsten vergeben macht uns sicher und gewiß, daß Gott uns vergeben habe.—

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