Die lebendige Beschreibung im vierundzwanzigsten Kapitel des Matthäus, wo „die Zukunft” oder das Kommen „des Menschensohns” mit einer Reihe schrecklicher Ereignisse verbunden wird, hat die Theologen zu unzähligen Erklärungsversuchen veranlaßt und endlosen Streit unter ihnen hervorgerufen. In materieller Auslegung offenbaren die in diesem Wortgemälde dargestellten Geschehnisse die Hand eines rächenden Gottes. Und doch erscheint es im Lichte dessen, was Jesus vom Vater lehrte, durchaus unfaßbar, daß das Wirken des Sohnes (den der Verfasser des Briefes an die Ebräer als den „Glanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens” bezeichnet) in der Ausübung von Wiedervergeltung an einem sündigen Volk bestehen sollte.
Welche Beziehung bestand denn zwischen Schrecken und Verwüstung und der „Zukunft” Christi, dessen vormaliges Erscheinen durch den Engelsgesang verkündet worden war: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen”? Sicher ist, daß die Botschaft des Messias eine Botschaft des Friedens und Segens war; aber die Harmonie, die er in Aussicht stellte, ist durch die klare Vergegenwärtigung des geistigen Wesens der Schöpfung bedingt und hat daher mit einem auf die Materie gegründeten Zustand der Ruhe, des Friedens und Wohlergehens nichts gemein. „Ich bin nicht kommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert,” erklärte er der Sinnesart, die in Vorstellungen, welche dem Prinzip der ewigen Harmonie von Grund aus widersprechen, Glück und Zufriedenheit sucht.
Das Wirken der Wahrheit ist der Harmonie und Glückseligkeit stets förderlich. Nur Widerstand gegen die Wahrheit verursacht Disharmonie und Leiden. Der Gründer des Christentums lehrte und bewies durch seine Werke, daß das Böse und Disharmonie sich nicht auf ein göttliches Gesetz gründen und nicht durch ein solches Gesetz verursacht werden, sondern daß sie Erscheinungsformen des fleischlichen Sinnes sind oder des sterblichen Gemüts, wie ihn Mrs. Eddy nennt. Auf dem Wege christlich-wissenschaftlicher Logik und werktätiger Beweise ergibt sich ferner, daß diese fleischlich geartete Mentalität aus der grundfalschen Annahme hervorgeht, als könne getrennt von Gott, dem Guten, Intelligenz und Kraft bestehen. Hieraus folgt, daß die verschiedenen Bekundungen des Bösen nur dann von Grund aus vernichtet werden können, wenn ihre mentale Ursache, nämlich die falschen Vorstellungen, aus dem Bewußtsein entfernt werden.
Das einzelne sterbliche Gemüt oder der sterbliche Mensch ist nur ein besonderes Erzeugnis oder ein Teil-Produkt der einen grundfalschen Sinnesvorstellung vom Sein, wie die Zweige und Blätter eines Baumes aus dem gemeinsamen Stamm hervorgehen. Wenn also der Sauerteig der Wahrheit im sterblichen Bewußtsein anfängt die lügenhaften Sinnesvorstellungen aufzulösen, so verspürt die ganze Menschheit ohne Unterschied des Ortes oder der Person seine Wirkung in höherem oder geringerem Grade. Der geistige Sinn, der wirkliche Mensch, vernimmt allezeit den Ruf der Wahrheit und folgt ihm freudig, wohingegen der materielle Sinn, der angebliche Feind des Guten, sich von der göttlichen Botschaft abwendet und ihr widersteht. Wenn nun der Ruf der Wahrheit in die Tiefen des sterblichen Bewußtseins dringt, werden die grundbildenden materiellen Vorstellungen derart erschüttert, daß die Wirkung in mentalem und moralischem Sinn einem Erdbeben gleicht. In Wissenschaft und Gesundheit (S. 224) erklärt Mrs. Eddy: „Die Welt fühlt die heilsame Wirkung der Wahrheit in allen Poren.”
Jeder Christliche Wissenschafter, der seinen Glauben praktisch anwendet, weiß aus eigner Erfahrung, daß die Prophezeiung von dem Kommen des Menschensohns zur jetzigen Zeit durch das Wiedererscheinen des Christus, der heilenden und erlösenden Wahrheit, in Erfüllung geht. Und wie bei manchen Leidenden die erneuernde Kraft der Wahrheit zunächst eine Verschlimmerung ihrer Krankheit zu bewirken scheint, so macht sich heute, da der stille Einfluß der Wahrheit das sterbliche Denken zu einer Änderung seiner Grundlage nötigt, weit und breit in der Welt eine Bewegung fühlbar. Die Ausübung der Christlichen Wissenschaft nach dem Beispiel Jesu rüttelt an den Grundfesten des Irrtums; daher die in größerem Umfang erfolgende Wiederholung der Erscheinungen, auf die der Meister mit Bezug auf besondere lokale, damals bevorstehende Ereignisse hinwies.
Mrs. Eddy schreibt: „Schon heute wird diese materielle Welt zum Kampfplatz widerstreitender Gewalten. Auf der einen Seite wird Disharmonie und Schrecken sein, auf der andern Wissenschaft und Friede. ... Der sterbliche Irrtum wird in einer moralischen Chemikalisation vergehen. Diese mentale Gährung hat begonnen und wird fortdauern, bis alle Irrtümer der Annahme dem Verständnis weichen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 96). Das unvorbereitete Gemüt muß den Anbruch dieser geistigen Wahrheit als einen gewaltigen Schlag empfinden. Wenn der selbstmörderische Wahn, der dem sterblichen Gemüt innewohnt, dem Scheinwerfer der Wahrheit ausgesetzt wird, nimmt er plötzlich eine akute Form an. Das Kommen des Menschensohns, die menschliche Erkenntnis der göttlichen Idee oder ihre Aufnahme ins menschlich Bewußtsein weckt die schlummernden Formen des angeblichen Bösen und erregt sie, der sterblichen Vorstellung nach, zum vereinten Widerstand gegen die Kräfte des wahren Seins. Die Welt im allgemeinen spürt bereits das Kommen des Menschensohns, wenn sie auch vorderhand die geistige Bedeutung dieses Kommens nicht in ihrem vollen Umfange zu erkennen vermag. Die menschlichen Anschauungen erweitern sich in ungeahnter Weise, das menschliche Denken strebt nach der Erkenntnis der geistigen Idee, die Szenen im Drama des sterblichen Daseins wechseln rascher denn je zuvor, beschränkende Elemente vergehen und in keiner Richtung scheinen der Entwicklung Grenzen gesetzt zu sein. Die Unruhe, die Gährung und das Aufeinanderstoßen der Elemente im industriellen und politischen Leben bezeugen den zwingenden Einfluß der Wahrheit, der eine Umgestaltung der menschlichen Ideale, Beweggründe, Methoden und Angelegenheiten auf geistiger Grundlage bewirkt.
Haben wir uns zuweilen dem Glauben hingegeben, daß den Christen während des endgültigen Konflikts zwischen der Wahrheit und dem Irrtum die Prüfungen und Erfahrungen eines früheren Zeitalters erspart bleiben würden, daß das sterbliche Gemüt seine materiellen Mittel und Wege, seine bösen Elemente ohne Widerstand aufgeben werde, daß die latenten Irrbegriffe der Fleischlichkeit und des verkehrten Sinnes ihrer Auflösung nicht vereint Widerstand leisten würden? Auf Seite 97 von Wissenschaft und Gesundheit sagt Mrs. Eddy: „Es erfordert Mut, die Wahrheit zu äußern; denn je stärker die Wahrheit ihre Stimme erhebt, desto lauter schreit der Irrtum, bis seine unartikulierten Laute auf immer in der Vergessenheit zum Schweigen gebracht sind.”
Der Mut und heilige Eifer der Apostel und Märtyrer früherer Zeiten sollte den heutigen Christen ein steter Ansporn sein, mutig für die Sache einzutreten, die der Menschheit zur Erkenntnis Gottes und Seiner Idee verhilft. Die zunehmende Zahl der Reformbewegungen, in denen Männer wie Frauen ihre Bequemlichkeit, ihr Vermögen, ihr Ansehen bei andern, ja sogar ihr Leben daransetzen, um die Besserung menschlicher Zustände in moralischer, ja oftmals nur in materieller Hinsicht herbeizuführen, sind nur Vorläufer einer höheren und festeren, auf geistiges Verständnis gegründeten Gesellschaftsordnung.
Was ist nun das Losungswort für die heutige Stunde? Es liegt in der folgenden Ermahnung des Meisters: „Alsdann fliehe auf die Berge, wer im jüdischen Lande ist.” Die Einwohner im Lande der materiellen Selbstzufriedenheit sollen Zuflucht suchen in den Festen beweisbarer geistiger Erkenntnis (im Bewußtsein der Wahrheit), die vom scheinbaren Bösen nicht eingenommen werden können. „Wenn aber dieses anfänget zu geschehen, so sehet auf und erhebt eure Häupter, darum, daß sich eure Erlösung nahet.”
Die Weisheit ist nur in der Wahrheit.—
