Wenn wir etwas tiefer ins menschliche Leben blicken, so finden wir, daß dessen Fehler und tragische Ereignisse zum großen Teil auf ein im Bewußtsein zurückgebliebenes Gefühl von erlittenem Unrecht zurückzuführen sind. Dieses Gefühl erzeugt Groll und strebt nach Wiedervergeltung. Gedankenzustände solcher Art enden in Sünde und Krankheit, und wenn sie nicht beizeiten berichtigt werden, führen sie unter Umständen zu Unglück und Verbrechen. Es ist daher nötig, daß die Menschheit ihren Begriff von Gerechtigkeit genau prüfe und eine Denktätigkeit übe, vermöge deren ein Gefühl des erlittenen Unrechts schnell überwunden werden kann. Hierbei handelt es sich weniger darum, ob der geschädigte Teil einen gerechten Grund zum Groll hat, ob eine Beleidigung, eine Schädigung, ein Unrecht vorliegt oder nicht. Es fragt sich vielmehr: frommt es dem Betreffenden, sich fernerhin dem Wahn hinzugeben, daß ihm ein Unrecht zugefügt worden sei?
Metaphysisch gedeutet ist ein solcher Zustand des Grolls ein Zugeständnis, daß das vermeintlich erlittene Unrecht wirklich, mächtig und wirksam sei. In den meisten Fällen wird mit diesem Zugeständnis jemand als Täter des zugefügten Übels bezeichnet, wozu dann der beharrliche Gedanke kommt, daß der geschädigte Teil deswegen leiden müsse.
Wer mit den Folgen des falschen Denkens auf das menschliche Leben und den menschlichen Körper bekannt ist, wird den schädlichen Einfluß des Grolls ohne weiteres erkennen. Die Gewohnheit, im Bewußtsein ein Gefühl des Gekränkt- oder Geschädigtseins zurückzubehalten, ist dazu angetan, den Betreffenden selber zum Übeltäter zu machen. Es sei denn, er habe die Beleidigung oder das Unrecht vergeben, so wird es ihn weiter plagen und schmerzen. Wer also glaubt, ein Unrecht erlitten zu haben, möge er auch nach menschlichen Begriffen zu dieser Annahme berechtigt sein, muß zu seinem eignen Schutz das zugefügte Unrecht vergeben, d. h. es unwirklich machen.
Hier tritt nun die Christliche Wissenschaft mit ihrer wohltätigen Wirkung vermittelnd ein und weist auf die einzig wahre Art des Vergebens, nämlich das Sichvergegenwärtigen der Unwirklichkeit des Übels. „Was,” frägt wohl der zu Schaden Gekommene, „soll ich etwa vorgeben, ich sei nicht geschädigt, beraubt oder beleidigt worden? Soll ich etwa leugnen, was sich unter meinen Augen zugetragen hat und wodurch ich in eine so mißliche Lage geraten bin?” Die Christliche Wissenschaft nimmt einen solchen Menschen beiseite und legt ihm in freundlicher aber bestimmter Weise die unumstößliche Lehre der Wahrheit dar Wer die Unwirklichkeit des Irrtums.
Nehmen Sie einmal an, so wird vielleicht der Christliche Wissenschafter sagen, Sie machten die Entdeckung, daß Ihr Gefühl des Beleidigtseins vollständig auf Einbildung beruht und daß es selbst nach menschlichen Begriffen jeglicher Ursache entbehrt, da keine Beleidigung vorliegt und Sie nicht geschädigt worden sind. Was hätte Ihnen dann Leiden verursacht? Offenbar Ihre eigne Vorstellung, und nichts weiter. Die Tat war nicht begangen worden, und Sie waren in nichts geschädigt. Dennoch waren Sie unwillig über die vermeintliche Tat und litten unter ihrer vermeintlichen Wirkung — und dies allein auf Grund Ihrer falschen Vorstellung. Nehmen Sie nun an, Ihre falsche Vorstellung sei aus irgendeinem Grunde nicht berichtigt worden; Tage wurden zu Wochen, Wochen zu Monaten und Monate zu Jahren, und Sie glaubten immer noch, das Unrecht sei begangen worden. Würde das Ergebnis für Sie nicht ebenso nachteilig sein als wenn tatsächlich ein Unrecht oder eine Schädigung vorgelegen hätte? Das ganze Wirrnis bestände demnach in Ihrer Vorstellung, und die Heilung würde erfolgt sein, sobald der Irrtum durch die Wahrheit berichtigt worden wäre.— In dieser Weise könnte der sich betroffen Fühlende dazu gebracht werden, das eigentliche Wesen des vermeintlichen Unrechts zu erkennen und demselben in der rechten Weise zu begegnen.
Mit Hilfe der Christlichen Wissenschaft läßt sich dann die Übeltat auf ihr ursprüngliches Nichts zurückführen. Man kann darlegen, daß die Erste Ursache oder das Prinzip, welches das Weltall und den Menschen regiert, das allgegenwärtige Gemüt ist; daß dieses Gemüt völlig gut und das einzige, wirklich bestehende Gemüt ist; daß es daher in Wirklichkeit kein böses Gemüt gibt, welches ein Übel oder ein Unrecht ersinnen oder ausführen könnte, und daß infolgedessen das vermeintliche Unrecht niemals wirklich geschehen ist. Ferner läßt sich dartun, daß die Vergegenwärtigung der Wahrheit über diesen besonderen Fall einer Vergebung gleichkommt, mit andern Worten, daß sie ein christlich-wissenschaftlicher Beistand ist, durch den die Unwirklichkeit des Übels bewiesen wird. Und so kann die Beseitigung des Irrtums auf dem Wege wissenschaftlicher Beweisführung durch die Wahrheit vollbracht werden.
Es ist unmöglich, ein Unrecht zu vergeben und dabei auf dem Standpunkt zu verharren, daß das Vergehen wirklich begangen worden sei. Solange angenommen wird, die unrechte Tat habe tatsächlich stattgefunden, wird sie nur zeitweilig übersehen, nicht wirklich vergeben. Ferner wird der Irrtum nicht vernichtet, indem man ihn unbeachtet läßt. Das Durchstreichen eines Fehlers beim Rechnen berichtigt den Fehler nicht. Die falschen Zahlen müssen durch die richtigen ersetzt werden. Dann bleibt nichts übrig, worauf sich das irrige Denken richten kann, nichts, was auf das Stattfinden eines Versehens oder Fehlers irgendwie hinweist.
Unter den Glaubenssätzen der Christlichen Wissenschaft auf Seite 497 von Wissenschaft und Gesundheit findet sich folgender Satz: „Wir bekennen Gottes Vergebung der Sünde in der Zerstörung der Sünde und in dem geistigen Verständnis, welches das Böse als unwirklich austreibt. Aber die Annahme von Sünde wird so lange bestraft, wie die Annahme währt.”
Ist nun Vergebung die einzige Abhilfe gegen erlittenes Unrecht? Gibt es keine Genugtuung, nachdem das Übel berichtigt und überwunden ist? Die Wirksamkeit der Christlichen Wissenschaft bringt die Gewißheit, daß jeder aufrichtige Sucher nach Wahrheit hier und jetzt, ohne auf einen zukünftigen Daseinszustand warten zu müssen, tatsächlich Gerechtigkeit erlangen kann. Es ist für einen jeden göttliche Gerechtigkeit vorhanden. Wer ein Unrecht wirklich vergeben, d.h. unwirklich gemacht hat, verlangt nicht nach Vergeltung, sondern überläßt es geduldig der göttlichen Gerechtigkeit, ihr wohltätiges Werk zu verrichten. Nachdem ein Mensch das Unrecht für sich selber unwirklich gemacht und somit wirklich vergeben hat, bleibt in ihm kein Gefühl des Verletztseins, des Grolls oder des Unrechts zurück; auch wird er sich nicht wegen einer Vorstellung zu rächen suchen, die, was ihn selber betrifft, auf ein Nichts zurückgeführt worden ist.
Die göttliche Gerechtigkeit übt stets ihren unparteiisch ordnenden Einfluß aus, und allen Teilnehmern an einer solchen menschlichen Erfahrung werden schließlich die gelehrten und gelernten Lektionen zum Vorteil gereichen. Oft kommt es vor, daß derjenige, der das Unrecht begangen hat, wenn er sieht, daß er nicht mehr ein Gegenstand des Hasses ist und daß ein von ihm unternommener versöhnlicher Schritt nicht sofort benutzt wird, um ihn weiterer Schuld zu bezichtigen, seinen Fehler aus eignem Antrieb eingesteht und nicht nur um Verzeihung bittet, die ihm bereits zuteil geworden ist, sondern auch seinen Fehler, soweit er es vermag, wieder gut zu machen sucht. Es gibt unzählige Wege, auf denen unter Gottes Führung, nachdem innere Vergebung einmal stattgefunden hat, volle Genugtuung und Gerechtigkeit erfolgen kann, und zwar als eine göttliche Notwendigkeit.
Eine von den Begriffserklärungen des Namens „Moses” im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift (S. 592) lautet: „Der Beweis, daß ohne das Evangelium — die Vereinigung von Gerechtigkeit und Liebe — geistiger Mangel vorhanden ist, denn unter dem Gesetz verlangt die Gerechtigkeit Strafe.” Jesus fügte der „Gerechtigkeit” Liebe hinzu und brachte uns somit das ganze Evangelium der Erlösung, das die zehn Gebote nicht aufhebt, ihrer Bedeutung als Besserungsmittel für die menschliche Natur nichts entzieht, sondern das Gesetz offenbart, durch das diese Gebote erst recht befolgt werden können. Liebe zum Guten, als wahrer Beweggrund zum Gehorsam, tritt an Stelle der Furcht vor dem Bösen. Jesus erklärte: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich kommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht kommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.” Und bei Paulus finden wir die weitere Erklärung: „So ist nun Liebe des Gesetzes Erfüllung.” Die Christliche Wissenschaft hat jedem Opfer eines Unrechts oder einer Ungerechtigkeit den Weg eröffnet, auf dem nicht nur das Gefühl der Erbitterung oder des Hasses vernichtet, sondern auch das Unrecht wieder gut gemacht werden kann.
Bei manchen Leuten kommt es dahin, daß sie selbst gegen Gott insgeheim Gefühle des Grolls hegen. Eine solche Denkweise kann nur aus einer völlig verkehrten Anschauung vom Schöpfer entstehen. Sie berührt Gott in keiner Weise, sondern ist nur gegen die falsche Auffassung gerichtet, nach welcher Gott der Urheber des Bösen sowohl wie des Guten wäre. Zu diesem Groll oder zu der Beschuldigung, daß Gott ungerecht sei, hat in gewissem Maße die schulmäßige Theologie die Veranlassung gegeben, denn die Lehre, welche das Böse als eine Schickung oder Zulassung Gottes darstellt, zwingt zu der Folgerung, daß Er für alles Leiden der Menschheit verantwortlich sei. Es ist daher vom Standpunkt der menschlichen Vernunft aus begreiflich, daß Menschen, die scheinbar mit hartnäckigen Charakterfehlern, mit sittlichen oder körperlichen Schwachheiten behaftet sind, sich versucht fühlen, Gott dafür die Schuld beizumessen.
Die Arzneimittellehre hat dieser Anschauung nicht entgegengewirkt, sondern sie eher unterstützt, indem sie gewisse Krankheiten sowie Krankheiten in gewissen Stadien beharrlich für unheilbar erklärt. Ferner hat die Theorie der erblichen Belastung viel dazu beigetragen, daß die hoffnungslosen Opfer Gott die Schuld für ihre Leiden zuschreiben. Wenn die Menschheit zu dem Glauben erzogen worden ist, daß völlig unschuldige Menschen, die die Aussicht auf ein nützliches Leben mit Freuden begrüßen, ohne ihr eignes Verschulden und nur durch das Wirken des göttlichen Gesetzes plötzlich von einem Übel befallen werden können, braucht es niemand wunder zu nehmen, daß sich die Menschheit bisweilen gegen eine solche Ungerechtigkeit empört. Wenn es zudem heißt, dem Wirken dieses Gesetzes könne man nicht entgehen, so kann man die Verzweiflung dieser Leidenden leicht verstehen, die ihre Hoffnung auf das Weiterbestehen ihrer menschlichen Existenz vernichtet sehen.
Hier bietet nun wiederum die Christliche Wissenschaft das wahre Heilmittel. In überzeugender Weise legt sie dar, daß Gott nicht der Urheber des Bösen sein kann, weil das Böse sonst sowohl gut wie ewig wäre. Sie folgert unwiderlegbar, daß wenn Gott unendlich und gut ist, das Böse nicht wirklich bestehen kann und daher Irrtum, also etwas Unwahres sein muß. Niemand hat fernerhin Ursache, sich einem Gefühl des Grolls gegen die Schöpfung, wie sie wirklich besteht, oder gegen ihre Gesetze hinzugeben. Keine Knechtschaft unter schlechten Gewohnheiten, kein Kummer wegen erlittener Verluste, kein körperliches Leiden, keine Krankheit kann dem absolut guten, reinen, vollkommenen Ursprung alles Seins zugeschrieben werden. Keine Lehre, keine irrige Theologie kann Gott für ihr eignes Unvermögen, die Menschheit zu erlösen, verantwortlich machen, und die Behauptung der Arzneimittellehre, gewisse Krankheiten seien unheilbar, weil sie kein Mittel gegen dieselben habe, findet immer weniger Glauben.
Des Menschen wahrer Ursprung ist in Gott, und von Ihm hat der Mensch keinen Erbfehler und keine Krankheit. Mrs. Eddy schreibt: „In der Wissenschaft ist der Mensch der Sprößling des Geistes. Das Schöne, das Gute und das Reine sind seine Ahnen. Sein Ursprung liegt nicht im tierischen Instinkt” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 63). Solange Theologie, Medizin und Naturwissenschaft fortfahren zu lehren, der Mensch habe seinen Ursprung im „tierischen Instinkt,” solange werden ihre Bemühungen, zu retten, zu heilen und das Leben zu erhalten, von Sünde, Krankheit und Tod gefolgt sein. Der Mensch nimmt von seinen göttlich verliehenen Rechten, von Harmonie, Gesundheit und Glück in dem Maße Besitz, wie er anerkennt und versteht, daß sein Ursprung göttlich ist und nicht sterblich.
Die göttliche Gerechtigkeit besteht somit für einen jeden. Kein Mensch braucht sich vor ihr zu fürchten, denn sie wirkt beschützend, und ihr Gesetz erlöst, heilt und tröstet. Göttliche Gerechtigkeit hebt die vermeintliche Ursache von Sünde und Leid auf und vernichtet zugleich ihre scheinbaren Folgen. Ein gerechter Gott herrscht über alles, aber Seine Gerechtigkeit ist mit Liebe gepaart. Durch die Beseitigung des Irrtums, welcher Leiden und Strafe nach sich zieht, leistet die göttliche Gerechtigkeit den Dienst eines weisen und liebevollen Freundes, der den Weg zur Freiheit weist.
