In Keiner andern Weise bewirkt die Christliche Wissenschaft eine größere Umwandlung in dem Denken der Welt, als dadurch, daß sie den wahren Begriff vom Gesetz und dessen Beziehung zum unendlichen Leben und zum Leben des Menschen erweckt. Jeremia schreibt in bezug auf das geistige Wiederaufleben, welches die Welt erfahren sollte: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund machen. ... Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben, und in ihren Sinn schreiben; und sie sollen mein Volk sein, so will ich ihr Gott sein.” Wir kommen dem Reich Gottes in dem Grade näher, in dem wir für das Gesetz Gottes zugänglich werden. Ist dem erleuchteten Sinn erst der wahre Zusammenhang der Wirksamkeit des Gesetzes mit dem Leben offenbar geworden, dann wird der Ausruf des Psalmisten: „Wie habe ich dein Gesetz so lieb!” zu einem allumfassenden Strom des erlösenden Denkens.
Wohl die meisten Menschen, ja selbst viele erklärte Christen, denken sich das Gesetz nicht als eine wünschenswerte Stütze, sondern als etwas, was die Freiheit beschränkt und als Zwangsmittel dient. Sie halten es für ein Erfordernis, um unbesonnene und leidenschaftliche Menschen im Zaun zu halten und sie zur Besserung zu nötigen. Diese Auffassung vom Gesetz erzeugt naturgemäß das Verlangen, seinen Bestimmungen auszuweichen. Sodann gibt es sehr viele Menschen, die kein andres Gesetz anerkennen, als ihren eignen Willen. Ja so manche, die zu den Philosophen gezählt werden, beklagen alle Herkömmlichkeiten, weil diese die persönliche Freiheit einschränkten. Eine gewisse Klasse von Künstlern tritt sogar für die Behauptung ein, daß in der Kunst niemand etwas Großes leisten könne, bis er sich habe „gehen lassen”— bis er alles abgestreift habe, was die sinnlichen Regungen und Neigungen in Schranken hält!
„Das Gesetz des Herrn ist vollkommen.” Diese große Wahrheit, die der Psalmist erkannte, wird in der Christlichen Wissenschaft fortwährend betont. Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß das Gesetz Gottes auch das Gesetz des Menschen ist, und daß die Erkenntnis dieses vollkommenen, natürlichen Gesetzes die Seele „erquickt”— den vorherrschenden Begriff vom Leben, dessen Vorrechten und dessen Macht berichtigt. Sodann befähigt die Christliche Wissenschaft die Menschen, zu erkennen und zu beweisen, daß, wie der große Prophet sagt, „von Zion,” dem geläuterten Begriff, das Gesetz ausgeht, und daß der wahre Christ im Umgang mit den Nebenmenschen durch Wort und Tat „Lust” am Gesetz beweist. Dies ist der Hauptgegenstand aller Lehren Mrs. Eddys, der Ruhm des Heilungswerkes, das durch die Erkenntnis des Christus, der Wahrheit, getan worden ist. „Die Bezeichnung Wissenschaft, richtig verstanden, bezieht sich nur auf die Gesetze Gottes und auf Seine Regierung des Weltalls, einschließlich des Menschen,” lesen wir in Wissenschaft und Gesundheit, Seite 128.
So gibt also die Auffassung vom Gesetz als einer unerbittlichen Nemesis der Erkenntnis Raum, daß das Gesetz nie Leid, Kummer und Not verursacht, sondern stets wohltuend wirkt, stets ermutigt, aufbaut, stärkt, tröstet und befreit. Wer dies erkannt hat, kann in der Tat mit frohem Herzen singen: „Wie habe ich dein Gesetz so lieb!” Er gibt dadurch der Erkenntnis Ausdruck, daß Gehorsam gegen das Gesetz die höchste Errungenschaft ist. Er ist zu der Einsicht gekommen, daß das Gesetz der Liebe niemals zwingt, sondern nur durch seine Anziehungskraft siegt; daß die sogenannten Strafen — Krankheit, Kummer, Leiden und Tod — nicht durch das Gesetz der Liebe bewirkt werden, sondern dem Umstand zuzuschreiben sind, daß das Gesetz des ewig Guten, welches selbst die Trotzigen und Halsstarrigen erretten will, nicht erkannt und verstanden worden ist. Unser Meister hatte dieses Gesetz voll und ganz erfaßt, weshalb er mit einem von Liebe und Erbarmen überströmenden Herzen ausrufen konnte: „Jerusalem, Jerusalem, ... wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!”
